Ein Traum der Welt: Spam und Freundlichkeit

Nr. 18 –

Annette Hug sucht verschwundene Nachrichten

Zu Besuch im Pflegeheim, geniesse ich freundliche Nachfragen und aufmunternde Einwürfe. Auch wenn mich meine Verwandte zuerst nicht erkennt und wenn ihr viele Sätze auf der Zunge zerbröseln, fragt sie irgendwann: «Und was machst du?» Sie nickt dann verständnisvoll, wenn ich neben ihr auf dem Sofa von der Arbeit erzähle. Die Auskünfte müssen echt sein, nur dann reagiert sie mit Bemerkungen, die fast immer passen. Wahrscheinlich hat sie als Ehefrau, Mutter und Kollegin oft zugehört. Die alten Reflexe spielen noch perfekt.

«Viel zu tun?» – «Ja, grosse Aufregung mit dem Gastlandauftritt. Im Oktober 2025 sind die Philippinen Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Das heisst: Ich übersetze mehrere Bücher und vermittle hier und da.» – «Klingt wichtig!» – «Manchmal erdrücken mich die Erwartungen, und ich gerate in Panik.» – «Du machst das bestimmt gut.» – «Es gibt so kleine Dinge, die mir den letzten Nerv ausreissen. Zum Beispiel der Spamfilter. Kennst du das? Das ist so ein Filter, der gute von schlechten Nachrichten trennt. Die schlechten schmeisst er weg.» – «K-K-Kühlschrank?» – «Eher Mülltonne. Da landen auch sehr wichtige Nachrichten. Ich glaube, da ist ‹Philippinen› als verdächtiges Wort gespeichert, drum muss ich jetzt immer den Spamordner lesen, da finde ich den Zwischenstand von Verlagsverhandlungen zwischen Berlin und Manila, Reaktionen auf einen Covervorschlag …» – «Gerede! Blödes Theater!», sagt meine Verwandte und erzählt ihrerseits von «verlorenen Nachrichten», von «Tempi passati», bald verstehe ich nicht mehr, was sie sagt, und sie gibt es auf mit den Worten, macht Knackgeräusche. Wenn ich mit Schnalzern antworte, lacht sie.

Auf dem Sofa dahindämmernd, geht mir der Ärger mit dem Spamfilter nicht aus dem Kopf. Wahrscheinlich ist Jan Marsalek schuld. Der hat bei der deutschen Firma Wirecard eine Schattenstruktur aufgebaut. 2020 musste sie Insolvenz anmelden, weil eine Zweitrevision «Luftbuchungen» im Umfang von 1,9 Milliarden Euro zutage gefördert hatte. Die erste Revisionsfirma hatte jahrelang nicht gemerkt, dass im Asiengeschäft, das Jan Marsalek verantwortete, mit Taschenspielertricks Forderungen in Liquidität umgewandelt worden waren. Das illegale Treiben begann allerdings lange bevor eine philippinische Firma ins Spiel kam, müsste man den Programmierer:innen des Spamfilters darlegen. Ein Wechsel von Singapur nach Manila, bei gleichzeitig stark steigenden Guthaben, hatte überhaupt erst den Verdacht geweckt, dass bei Wirecard etwas nicht stimmte. Richtig gefährlich war also ein scheinbar topseriöser Treuhänder in Singapur.

«Und jetzt?», fragt meine Verwandte. «Ich denke an Jan Marsalek, den Gauner. Er ist untergetaucht.» – «Der war auch fleissig.» – «Fleissig im Fälschen! Er war reich, aber absturzgefährdet.» – «Es hat ihm Spass gemacht!» – «Sein Kompagnon ist auch weg, der hat wahrscheinlich seinen eigenen Tod in Manila vorgetäuscht, mit einer gekauften Urkunde. Es stimmt schon, dass das auf den Philippinen relativ einfach geht. Vielleicht werden solche Dienste auch per E-Mail in Europa angeboten, und ich muss dann im Spamfilter …» – «Szenerei!» Das heisst so viel wie «blödes Theater», endlos Zuhören geht bei aller Freundlichkeit nicht. «Drecksack», sagt sie mir plötzlich, und ich leite das an Jan Marsalek weiter.

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich.