Ein Traum der Welt: Wunderbare alte Damen

Nr. 28 –

Annette Hug schreibt nicht nur über die Hitze

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Neuerdings kommt es vor, dass mich meine Verwandte auf der Demenzstation zurückweist. Sie will dann nicht, will gar nichts. Einfach wieder zu gehen, wäre aber falsch. Wenn ich eine halbe Stunde später nochmals ankomme, als sei nichts gewesen, freut sie sich. In der halben Stunde Wartezeit kann ich gefahrlos fremdgehen, zum Beispiel Frau Baldissera Komplimente machen. Die ist immer ausgesucht gekleidet, in einem Edelhippiestil – über Jahrzehnte selbst genähte Kleider, sagen die Pfleger:innen. Sie geniessen es offensichtlich, ihr jeden Morgen zu helfen, sich zurechtzumachen und zu schminken. Sie selbst erinnert sich nicht, wer die Kleider gemacht hat. Zu langen Röcken und verspielten Blusen trägt sie unterschiedliche Hüte. Einige Pfleger:innen machen sich Sorgen, wie lange das alles schön bleibt, weil die Wäscherei nicht in der Lage ist, Kleider individuell zu behandeln. Da kommt alles in dieselbe Maschine, sechzig Grad oder höher.

Im Gespräch greift Frau Baldissera nach meinen Händen, streichelt sie. Ich erzähle von einem persönlichen Projekt: Nach einer Jugend auf dem Fussballplatz, die mir einen burschikosen Gang beschert hat, möchte ich mich in den kommenden Jahrzehnten nochmals verwandeln. «Eine elegante alte Dame werden» heisst das Projekt. «Mamma mia», sagt sie anerkennend und streicht mir über die Wange. Sonst spricht sie Baseldeutsch und erzählt von kleinen Kindern, die zu Hause auf sie warten.

Mit der Hitze wird die Kleiderwahl schwierig. Die Station kann zwar gekühlt werden, aber die Terrassentüren müssen offen bleiben, weil das den Neuen mit Bewegungsdrang erlaubt, im Garten eine Runde zu drehen. Immer mit Hut. Und eine Pflegerin verteilt nasskalte Handtücher, die man sich in den Nacken legt. Eine Wohltat.

Anderswo reicht das nicht. Aus ihrem Zimmer in Manila schreibt eine Freundin, dass ihr die Familie eine Behelfs-Aircondition eingerichtet hat. Mit über achtzig verlässt sie in den Hitzemonaten das Haus nicht mehr. Jetzt kommt eine COPD dazu, eine chronische Lungenkrankheit, die oft vom Rauchen verursacht wird, bei ihr wohl von der Luftverschmutzung in der Megastadt. Bei Temperaturen über vierzig Grad heisst das neben Aircon: künstliche Sauerstoffzufuhr, Luftbefeuchter, «nebulizer» – das ist kein Nebelwerfer, kein euphemistisches Geschwätz von wegen «heiss war es immer wieder, und Berge stürzen halt ein», die Übersetzung von «nebulizer» ist «Vernebler». Ein multinationaler Hersteller schreibt, das Gerät wandle Medikamente in Aerosol um, damit sie von der Lunge bei der Inhalation einfacher aufgenommen werden könnten.

Bei solchen Nachrichten bleibt mir selbst die Luft weg, die Angst um Freundinnen verbindet sich mit hemmungsloser Zuneigung. Ein ähnliches Gefühl hat auch das Buch «La Fortune» der Genfer Schriftstellerin Catherine Safonoff geweckt (Éditions Zoé, 2024). Die Ich-Erzählerin würde lieber nicht bei ihrer Tochter wohnen. Sie bliebe lieber unabhängig, aber man muss dankbar sein. Als Greisin. Eine bezaubernde Gleichzeitigkeit von Starrsinn und Zartheit, von Offenheit und Rückzug spricht aus dem Text – in jahrzehntelang gereifter Sprachkraft. Auch Hélène Cixous schreibt mit über neunzig Jahren weiter, kürzlich war sie auf Radio France Culture zu hören. Wahrscheinlich erscheint im Herbst, wie jedes Jahr, ein neues Buch von ihr.

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich. Von Catherine Safonoff ist auf Deutsch in der Übersetzung von Claudia Steinitz «Der Bergmann und der Kanarienvogel» erschienen (Rotpunktverlag, 2015).