Durch den Monat mit Mariam Al-Shaar (Teil 4): Glauben Sie an einen dauerhaften Frieden?
In Mariam Al-Shaars Café in einem Flüchtlingscamp wurde während des Krieges zwischen dem Libanon und Israel weiterhin gekocht – um das Leben erträglicher zu machen.
WOZ: Mariam Al-Shaar, die israelische Regierung und die Hamas haben sich auf eine Waffenruhe geeinigt, es gibt Verhandlungen für einen Friedensplan. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Mariam Al-Shaar: Mariam Al-Shaar: Wissen Sie, ich möchte mich nicht politisch positionieren. Nur so viel: Die Waffenruhe ist natürlich gut, dennoch betrachten wir Palästinenser:innen die Entwicklung skeptisch. Wir wissen, dass es erneut einen Krieg geben könnte, in Gaza und im Libanon. Es gibt keine Garantie für einen dauerhaften Frieden.
WOZ: Warum möchten Sie sich nicht politisch positionieren?
Mariam Al-Shaar: Weil ich es nicht muss und weil das sehr sensible Themen sind. Ich bin keine Politikerin, sondern Mariam, eine «female entrepreneur». Als Mensch kann ich aber sagen, dass der Krieg falsch war. Wir Palästinenser:innen sind traurig, wütend, wir haben Angst. Wir glauben nicht mehr an die Menschlichkeit. Kinder bekommen kein Essen, Schulen wurden bombardiert, Spitäler und Moscheen. Alles wurde zerstört. Die Menschen wurden ermordet – und die ganze Welt weiss davon. Selbst Feinde sollten sich gegenseitig respektieren. Wir Palästinenser:innen im Libanon erleben alles doppelt: Wir sind heimatlos, unsere Möglichkeiten im Leben sind sehr eingeschränkt, viele von uns kennen ihre Heimat nur aus Erzählungen. Obwohl wir fern von Gaza sind, fühlen wir mit den Menschen dort.
WOZ: Haben Sie noch Angehörige in Gaza?
Mariam Al-Shaar: Nein, aber wir Palästinenser:innen sind eine grosse Familie. Wenn in Gaza ein Mensch stirbt, dann stirbt ein Familienmitglied. Was dort geschieht, betrifft uns nicht nur emotional, sondern auch politisch: Wir wussten, dass der Krieg wieder zu uns in den Libanon herüberschwappen würde. Monatelang haben wir das schon erwartet.
WOZ: Ende September 2024 weitete sich der Krieg dann tatsächlich auf den Libanon aus. Die israelische Armee bombardierte Beirut, begleitet von einer Bodeninvasion im Süden des Landes. Wie haben Sie jene Zeit erlebt?
Mariam Al-Shaar: Einen Tag vor dem Kriegsausbruch waren wir mit unserem Café Soufra mit einem Catering für eine Universität beschäftigt. Als ich am Abend nach Hause ging, hörte ich Schreie. Flugzeuge hatten die Schallmauer durchbrochen, Kinder weinten, und die Menschen gerieten in Panik. Wir befürchteten, dass das Camp bombardiert werden könnte. Ich hatte keine Angst um mich selbst, sondern um meine Familie und mein Team. Es war ein seltsames Gefühl. Ich bin eigentlich ein Mensch, der mit Ängsten umgehen kann. Doch ich kann nicht immer stark und mutig sein. Zu sehen, wie die Menschen, die mir nahestehen, sich fürchten, ist sehr schwierig für mich.
WOZ: Was geschah nach dem Kriegsausbruch?
Mariam Al-Shaar: Die Bomben schlugen in der Nähe des Camps ein. Die Gebäude hier sind fragil, die Gefahr, bei einem solchen Bombardement zu sterben, ist real. Ich habe mein ganzes Leben im Camp verbracht und beschlossen, auch während des Krieges hierzubleiben. Also brachte ich meine Familie nach Beirut in Sicherheit und kehrte allein zurück. Im Camp leben normalerweise rund 50 000 Personen. Plötzlich waren wir nur noch ein paar Dutzend. Die Menschen waren zu Fuss, mit dem Motorrad oder dem Auto geflohen. Eines Morgens stand ich auf den Strassen des Camps, und es war leer – es war gespenstisch. Mit einigen wenigen haben wir beschlossen, das Café Soufra offen zu halten.
WOZ: Sie kochten weiter?
Mariam Al-Shaar: Ja. Wir haben für die Verbliebenen im Camp gekocht und für die Menschen draussen in den Notunterkünften. Wir lieferten ihnen das Essen kostenlos mit Motorrädern, das war vor allem durch die Unterstützung von Cuisine sans frontières möglich. Die Situation war unheimlich. Mit dem Motorrad wagte ich mich nach Beirut. Auch das war beängstigend. Ständig waren Bombeneinschläge zu hören. Fliehende waren unterwegs, teils waren die Strassen leer. Doch ich sagte mir: Das ist nun meine Aufgabe – ich muss die Menschen versorgen.
Ich war fast nur in der Küche oder unterwegs, um Essen auszuliefern oder zu versuchen, neue Lebensmittel zu besorgen – was noch schwieriger war als sonst. Gleichzeitig versorgte ich meine Familie mit Medikamenten und frischer Kleidung. Wir haben kaum geschlafen, weil ständig Detonationen zu hören waren, und es roch ununterbrochen seltsam. Ich weiss nicht, woher dieser Geruch kam. Diese Details fallen mir erst jetzt wieder ein. Während des Krieges hatte ich keine Zeit, darauf zu achten. Jedenfalls sind die Bewohner:innen danach wieder nach Burdsch al-Baradschne zurückgekommen, und obwohl jetzt in Gaza und hier offiziell Frieden herrscht, ist die Situation unverändert hoffnungslos.
WOZ: Haben Sie kein positives Szenario für die Zukunft des Libanon und des Gazastreifens im Kopf?
Mariam Al-Shaar: Nein – und so denken die meisten Palästinenserinnen und Palästinenser hier. Die ganze Welt kennt die Realitäten, wie soll da Hoffnung entstehen?
Mariam Al-Shaar (53) ist Gründerin und Leiterin des Café Soufra im Flüchtlingscamp Burdsch al-Baradschne nahe Beirut.