Durch den Monat mit Mariam Al-Shaar (Teil 2): Warum mussten Sie die Schule abbrechen?

Nr. 41 –

Mariam Al-Shaar wollte Journalistin werden, aber musste diesen Traum begraben. Dennoch setzte sie sich in einer patriarchalischen Gesellschaft durch.

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Portraitfoto von Mariam Al-Shaar
«Ich empfand es als unfair – einer so guten Schülerin wie mir wurde das Studieren verwehrt. Aber ich sah es als meine Pflicht, meine Schwestern zu unterstützen»: Mariam Al-Shaar.

WOZ: Frau Al-Shaar, Sie sind in Beirut im Flüchtlingscamp Burdsch al-Baradschne mit fünf Schwestern aufgewachsen. Wie wurde das in der patriarchalisch geprägten palästinensischen Gesellschaft wahrgenommen?

Mariam Al-Shaar: Mariam Al-Shaar: Unsere Community betrachtete meinen Vater als schwach, weil er keinen Sohn hatte. Für ihn selbst war das nie ein Problem. Meine Mutter hingegen war manchmal traurig darüber. Sie beschützte uns sehr, vielleicht ein wenig zu sehr.

Mariam Al-Shaar: Ich hatte aber eine schöne Kindheit, besser als meine Jugend. Meine Mutter sagte oft: «Wenn du gut bist, erkennst du, dass viele andere Menschen auch gut sind.» Das war zwar nicht ganz richtig, aber als Kind war es meine Vorstellung von der Welt. Ich war sehr schüchtern, hatte nur wenige Freund:innen, war eher eine Einzelgängerin. Meistens habe ich gelesen und geschrieben. Verantwortung musste ich damals noch keine übernehmen.

WOZ: Als Zweitgeborene trugen Sie später viel Verantwortung für Ihre jüngeren Schwestern.

Mariam Al-Shaar: Ja, weil ich die Stärke dazu hatte. Wir lebten zunächst zu acht in zwei, später in drei Zimmern. Meine Eltern können nicht lesen und schreiben. Mein Vater verkaufte mit einem Wägelchen Obst und Gemüse im Camp. Mit sechzehn begann ich, ihm zu helfen – und brach dafür die Schule ab.

WOZ: Auf eigene Initiative hin?

Mariam Al-Shaar: Es ging nicht anders. Eigentlich wollte ich Journalistin werden, liebte das Lesen, schrieb kleine Geschichten, träumte von der Universität. Ich hatte sehr gute Noten. Doch für meine Eltern waren die Schulgebühren zu hoch. Ich lieh mir Geld, aber es fühlte sich nicht richtig an. Zwischen 1985 und 1990 brach im Camp auch noch ein Krieg aus, das Lager wurde von Milizen belagert.

Mariam Al-Shaar: Ich empfand es als unfair: Einer so guten Schülerin wie mir wurde das Studieren verwehrt. Aber ich sah es als meine Pflicht, meine Schwestern zu unterstützen. Zehn Jahre lang arbeitete ich dann als Lehrerin für Kinder. Mit 25 Jahren wechselte ich zum Hilfswerk UNRWA. Das war eine grosse Veränderung: Dort lernte ich sehr viel, die Menschen haben an mich geglaubt.

WOZ: Wie denken Ihre Eltern heute über Ihre Karriere?

Mariam Al-Shaar: Mein Vater ist sehr stolz auf uns. Eine meiner Schwestern ist Krankenschwester. Er erzählt gerne, sie sei Ärztin – dann müssen wir ihn lachend korrigieren. Mich nennt er liebevoll «Big Boss», er denkt, ich hätte zu allem eine Antwort.

Mariam Al-Shaar: Meine Mutter neckt mich manchmal und fragt, warum ich nicht geheiratet und Kinder bekommen habe. Auch wenn sie meine Entscheidung akzeptiert, Single zu bleiben, stösst es auch auf Unverständnis. Aber ich entscheide für mich, es gibt niemanden, der mich kontrolliert.

Palästinenser:innen im Libanon sind zahlreichen Restriktionen ausgesetzt, unter anderem haben sie keinen Anspruch auf die libanesische Staatsbürgerschaft. Wann haben Sie erkannt, dass Barrieren Ihr Leben behindern?

Mariam Al-Shaar: Ein besonders bitterer Moment war 2017, als ich versuchte, für mein Projekt «Soufra» eine mobile Küche zu kaufen. Es dauerte ein Jahr, weil wir immer wieder von Händler:innen abgelehnt wurden. Ohne eine Extralizenz durften wir keinen Foodtruck erwerben. Wir Palästinenser:innen dürfen viele Berufe im Libanon nicht ausüben. Sogar ein Bankkonto zu eröffnen, ist schwierig. In solchen Momenten spürt man die Grenzen sehr deutlich, es ist diskriminierend. Am Ende ging es nur dank Netzwerken – ich habe viele libanesische Freund:innen, die mir immer wieder helfen.

WOZ: Gab es Momente, in denen Sie aufgeben wollten?

Mariam Al-Shaar: Natürlich. Für eine Frau in meiner Community ist es nicht einfach. Schon das Frausein ist ein Problem. Als Frau zu arbeiten und Geld zu verdienen, ist das nächste Problem. Als Frau ohne Ehemann, Sohn und Vater im Hintergrund ist es noch schwieriger. Ich habe Neid und Missgunst erfahren, von Männern wie auch von Frauen. Es kommt vor, dass Menschen Erwartungen an mich haben, die ich nicht erfüllen kann.

WOZ: Können Sie das konkretisieren?

Mariam Al-Shaar: Es fängt schon bei der Betrachtung meiner Person an: Manche nennen mich eine Geschäftsfrau. Das lehne ich ab, ich mache keine Geschäfte, sondern schaffe Safe Spaces für Frauen. Schon mehrfach wurde ich von Männern nach Geld gefragt. Aber ich selbst verdiene nichts an «Soufra», ich kann nichts leihen, was ich nicht habe.

Mariam Al-Shaar: Auch ist es schwierig, sich abzugrenzen. Manchmal kommen Bekannte, Freund:innen und Verwandte noch am Abend vorbei, um sich Tipps von mir zu holen. Aber ich habe einen Zwölfstundentag, und meine Ressourcen sind nicht unendlich. Seit einiger Zeit sage ich deshalb, dass ich am Abend meine Ruhe brauche. In unserer Community ist das eigentlich ein grosses No-Go, es wirkt überheblich, doch ich muss auf mich achten. Auch wenn mich nicht alle mögen – sie respektieren mich, das ist mir wichtig.

Mariam Al-Shaar (53) lebt noch immer mit ihrer Familie im Flüchtlingscamp Burdsch al-Baradschne. Im April erschien das Kinderbuch «Mariam’s Dream» (Chronicle Books), das ihren Kampf für Frauenrechte im Camp erzählt.