Durch den Monat mit Mariam Al-Shaar (Teil 3): Reden Sie auch über Tabuthemen?
Rund vierzig Frauen arbeiten im Team der Cafégründerin Mariam Al-Shaar. Fast alle haben eine Fluchtgeschichte – und die Arbeit ist ihr Anker.

WOZ: Frau Al-Shaar, für wen würden Sie gerne einmal kochen?
Mariam Al-Shaar: Mariam Al-Shaar: Für die Schauspielerin Susan Sarandon. Sie hat den Dokumentarfilm über unser Café Soufra mitproduziert. Sie war sehr freundlich zu unserem Team und zeigte sich solidarisch mit Palästina.
WOZ: Im Film wird ein Garten auf dem Dach des Cafés gezeigt, in dem Sie Gemüse anbauten. Den gibt es nicht mehr – was ist passiert?
Mariam Al-Shaar: Wir mussten aus dem alten Haus raus, weil es abgerissen wurde. Mir fehlt der Garten mit seinen Düften sehr. Im Camp gibt es keine Blumen, keine Bäume, keine Farben – alles ist grau und schwarz. Ich träume von Farben.
WOZ: In Ihrem Team arbeiten vierzig Frauen – Palästinenserinnen, Syrerinnen und auch einige Libanesinnen. Gibt es Spannungen zwischen den Mitarbeiterinnen?
Mariam Al-Shaar: Zu Beginn gab es das. Als die Syrer:innen ins Camp kamen, trafen zwei sehr unterschiedliche Kulturen aufeinander – auch sprachlich. Sogar beim Kochen gab es Streit: «Dieses Rezept ist falsch!», sagte die eine. «Nein, so macht man es!», die andere. Ich habe dann immer gesagt: «Am Ende des Tages sind wir alle Flüchtlinge.» Ein emotionales Thema zwischen den Frauen sind frühe Ehen. In der syrischen Gemeinschaft hier sind sie noch verbreitet, in der palästinensischen kaum mehr. Auch Mehrfachehen kommen unter Syrer:innen im Camp noch vor. Das macht vielen Frauen Angst, etwa dann, wenn ihr Mann eine zweite Frau heiraten will oder wenn die Töchter früh verheiratet werden. In unserem Team ist aber mit der Zeit das gegenseitige Vertrauen gewachsen. Heute, nach rund dreizehn Jahren, ist das Arbeitsklima entspannter.
WOZ: Warum wollen die Frauen bei «Soufra» in der Küche arbeiten?
Mariam Al-Shaar: Die Gründe sind unterschiedlich. Manche brauchen das Geld, andere sehnen sich einfach nach einem Leben ausserhalb ihrer Wohnung. Bei «Soufra» bauen sie sich ein soziales Netz auf, finden Freundinnen und können wieder lachen. Es gibt sogar Männer, die mich bitten, ihre Frauen und Töchter bei uns arbeiten zu lassen, weil sie wissen: Hier geht es ihnen besser. Für viele bedeutet die Arbeit ein Stück Freiheit.
WOZ: Was brauchen die Frauen dringend?
Mariam Al-Shaar: Eine bessere Gesundheitsversorgung. Es gibt nur ein Spital im Camp. Wir brauchen zudem mehr Bildung. In ganz Beirut gibt es nur eine einzige weiterführende Schule für Palästinenser:innen. Und wir benötigen mehr Raum: Unsere Wohnungen sind eng, ich höre zum Beispiel meinen Nachbarn beim Duschen. Die Frauen brauchen Empowerment. Sie brauchen die Freiheit, offen über das zu sprechen, was sie bewegt. Vieles ist hier tabuisiert, nur weil man eine Frau ist. Wir brauchen Wahlfreiheit – und wollen gleiche Rechte wie alle Menschen. Wir träumen von sauberem Wasser, von Menschenrechten und davon, jederzeit genug Essen zu haben. Und davon, dass niemand mehr wegen herunterhängender Stromkabel stirbt.
WOZ: Sprechen Sie auch über seelische Nöte im Team?
Mariam Al-Shaar: Psychische Probleme sind im Camp weitverbreitet, besonders unter Frauen. Sie sind oft den ganzen Tag zu Hause, während sich die Männer frei bewegen können. Seit einiger Zeit reden wir offener darüber, und die Frauen trauen sich eher, um Hilfe zu bitten. Aber das Sprechen über seelische Probleme ist immer noch mit Scham behaftet. Auch die Männer sprechen kaum darüber, weil sie Angst haben, als schwach wahrgenommen zu werden.
WOZ: Können Sie auch Tabuthemen ansprechen?
Mariam Al-Shaar: Ja, aber nur mit Bedacht. Wir müssen auf unsere Traditionen Rücksicht nehmen. Zum Beispiel bei frühen Ehen: Sie sind zwar erlaubt, aber wir sagen auch, dass es für alle besser wäre, zumindest zuzuwarten, bis die Mädchen eine Ausbildung haben. Wir sagen den Eltern, dass sie ihre Töchter nicht zwingen sollen – alles in einem ruhigen Ton, damit wir keine Traditionalisten gegen uns aufbringen. Ich habe mir schon anhören müssen, dass die Frauen wie Katzen seien, wenn sie zu mir kämen – doch nach einigen Monaten seien sie wie Tigerinnen.
WOZ: Was waren bisher die schönsten Momente bei «Soufra»?
Mariam Al-Shaar: Es gab sehr viele schöne Momente. Als wir das erste Mal unsere Küche in Beirut präsentierten, waren wir sehr aufgeregt. Es ging darum, unsere Produkte zu bewerben und zu verkaufen. Wir trafen uns morgens um 7.30 Uhr, und von weitem sah ich eine Gruppe Frauen, die ich zunächst nicht als unser Team erkannte. Sie trugen bunte Gewänder, waren geschminkt. Je näher ich kam, desto mehr erkannte ich sie: Es war unser Team. Sie waren glücklich, lachten oft auf dem Markt – es war für sie ein Ausflug, auch wenn es ein beruflicher Anlass war.
WOZ: Welcher Moment war besonders traurig?
Mariam Al-Shaar: Der Tod einer Kollegin hat unser Team sehr getroffen. Schlimm war auch der Ausbruch des Krieges in Gaza und im Libanon.
Mariam Al-Shaar (53) lebt im Flüchtlingscamp Burdsch al-Baradschne nahe Beirut. 2017 erschien der Dokumentarfilm «Soufra», der ihr Leben porträtiert. «Eine mitreissende Geschichte über Empowerment», schrieb die «New York Times» über den Film.