Durch den Monat mit Mariam Al-Shaar (Teil 5): Warum wollen Sie im Flüchtlingscamp bleiben?

Nr. 44 –

Sie reist als Botschafterin ihres Cafés Soufra um die Welt, doch es zieht sie immer wieder zurück: Mariam Al-Shaar über Lebensträume und Abhängigkeiten.

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Mariam Al-Shaar.
«Hier in Bursch al-Baradschne wurde ich geboren, hier ist meine Heimat, hier kann ich etwas bewirken»: Mariam Al-Shaar. 

WOZ: Frau Shaar, in unserem letzten Gespräch haben Sie sich pessimistisch über die politische Entwicklung im Libanon geäussert. Dennoch möchten Sie das Flüchtlingscamp Burdsch al-Baradschne, in dem Sie leben, nicht verlassen. Warum?

Mariam Al-Shaar: Mariam Al-Shaar: Das Camp ist nicht nur ein Flüchtlingslager. Es existiert seit 1948, für viele Menschen ist es ein Zuhause. Auch für mich, ich wurde hier geboren und war noch nie in Gaza. Hier ist meine Heimat, hier kann ich etwas bewirken. Obwohl Beirut mit seinen Cafés und Geschäften nicht weit entfernt ist, wollen vor allem die Älteren nicht dorthin. Sie fühlen sich dort allzu sichtbar und nicht akzeptiert. Viele Eltern haben Angst, wenn ihre Kinder aus dem Camp hinausgehen. Draussen ist das Unbekannte. Die Jugendlichen hingegen wollen raus, sie wollen arbeiten, den Libanon verlassen. Arbeit gibt es hier kaum – wir sind abhängig von unseren kleinen Läden, von der UNRWA und von anderen Hilfsorganisationen wie Cuisine sans frontières. Doch die Gelder werden weniger. Ende September kam die Nachricht, dass die UNRWA achtzig Lehrer:innen entlassen musste, weil die Finanzierung fehlt.

WOZ: Sie haben schon sehr viel erreicht. Was sind Ihre Pläne für das weitere Leben?

Mariam Al-Shaar: Das ist eine sehr schwierige Frage.

WOZ: Gibt es Träume, die Sie sich noch erfüllen möchten?

Mariam Al-Shaar: Warum fragen Sie mich etwas derart Kompliziertes?

WOZ: Weil ich Sie als Menschen sichtbarer machen will.

Mariam Al-Shaar: Vielleicht möchte ich eines Tages tatsächlich in Palästina leben. Ansonsten will ich im Camp bleiben und darauf vertrauen, dass ich weiterhin genügend Unterstützung für meine Arbeit bekomme.

WOZ: Hätten Sie sich als Kind vorstellen können, einmal Hollywoodgrössen wie Susan Sarandon zu treffen, die einen Film über Sie produziert hat, und ein Buch («Mariam’s Dream») über das eigene Leben in den Händen zu halten?

Mariam Al-Shaar: Als Kind hätte ich mir nicht einmal vorstellen können, das Camp zu verlassen. All meine Reisen sind für mich als Palästinenserin keine Selbstverständlichkeit. Bei jeder Passkontrolle wird mir klar, wie privilegiert ich bin. Ich besitze keinen offiziellen Pass. Die Beamt:innen schauen auf meine Papiere, sie stutzen und schauen nochmals kritisch darauf, bis ich weitergehen kann.

WOZ: Sie sind weltweit unterwegs – zuletzt waren Sie im September für einen Vortrag über das Café Soufra in der Schweiz. Haben Sie den Eindruck, dass sich die Menschen vorstellen können, was es bedeutet, im Camp Burdsch al-Baradschne zu leben?

Mariam Al-Shaar: Darüber haben wir gerade gestern in unserem Team gesprochen. Für uns gehören die ständige Krise, die Angst vor einem Krieg, die Knappheit an Lebensmitteln, Strom, Wasser, Raum und Geld zum Alltag. Wir müssen für all das selbst Lösungen finden. Wenn ich im Ausland davon erzähle, sehe ich oft Erstaunen in den Blicken der Leute. Wir werden dafür bewundert, dass wir es trotz aller Hindernisse schaffen.

WOZ: Fühlen Sie sich manchmal missverstanden?

Mariam Al-Shaar: Nicht unbedingt missverstanden, aber es kann mühsam sein: Ich muss viel erzählen und erklären, damit sich die Menschen draussen unser Leben vorstellen können.

WOZ: Das kann auch dazu führen, dass man sich ausgestellt fühlt.

(Lacht.) Nein. Die Menschen sind mir insgesamt wohlgesinnt und loben unsere Arbeit.

WOZ: Erhalten Sie im Ausland mehr Zuspruch für Ihr Engagement als im Camp?

Mariam Al-Shaar: Insgesamt ist die Unterstützung draussen stärker als innerhalb meiner Gemeinschaft. Weil ich eine Frau bin, stosse ich dort immer wieder auf Vorbehalte. Ich solle heiraten, weniger oder gar nicht arbeiten, insgesamt traditioneller leben, heisst es oft. Im Ausland hingegen höre ich davon nichts. Als ich kürzlich in Zürich war, fürchtete ich zuerst, ich könnte durch mein Kopftuch auffallen, aber die Menschen haben mich nicht beachtet. Es ist schön, manchmal in die Anonymität abtauchen zu können.

WOZ: Sie stutzten, als ich Sie nach Ihren Träumen fragte. Haben Sie Wünsche für «Soufra»?

Mariam Al-Shaar: «Soufra» ist ein Regenschirm, der meinem Team Schutz bietet. In der «Soufra»-Gemeinschaft können die Frauen ihre Sorgen und Nöte teilen und sich trotz der strengen Arbeit vom Alltag erholen. Einen solchen Regenschirm sollte es in allen anderen Flüchtlingslagern im Libanon geben. Es sollten nicht mehr – wie derzeit – vierzig Frauen beschäftigt sein, sondern Hunderte. Kürzlich erzählte mir eine Frau aus meinem Team, dass sie früher immer nur zu Hause blieb und deshalb ständig im Pyjama herumlief. Jetzt, mit ihrer Arbeit bei «Soufra», habe sie wieder einen Grund, sich schön anzuziehen. Eine andere Mitarbeiterin, die ihr erstes Gehalt bekam, war stolz und voller Freude. Das berührt mich. Es zeigt: Wir Flüchtlingsfrauen können alles schaffen, wir brauchen nur die Chancen.

Mariam Al-Shaar (53) ist Gründerin und Leiterin des Cafés Soufra im Flüchtlingscamp Burdsch al-Baradschne nahe Beirut. «Soufra» ist ein arabischer Begriff, er bedeutet «langer Tisch», auf dem zahlreiche Gerichte serviert werden und um den sich Familie und Freunde versammeln.