Verkehrspolitik: Geliefert wie bestellt

Nr. 42 –

Vergangenen Woche präsentierte Albert Rösti seine Antwort auf die Autobahnschmach vom letzten Jahr: ein wissenschaftliches Gutachten, das allerdings demokratiepolitische Fragen aufwirft.

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Autobahnabschnitt Wankdorf–Schönbühl aus der Vogelperspektive
Albert Rösti bleibt seiner Spur treu: Der Autobahnabschnitt Wankdorf–Schönbühl bei Bern soll weiter ausgebaut werden. Foto: Anthony Anex, Keystone

Ein neuer Autobahnanschluss, mitten in der Stadt: Für wen soll das gut sein? Für die Anwohner:innen jedenfalls kaum, und zu diesen gehört auch Franziska Ryser. Die Grünen-Nationalrätin wohnt in St. Gallen, wo sie letzten November einen historischen Abstimmungssieg feierte. Unter den sechs Autobahnprojekten, die von der Stimmbevölkerung mit fast 53 Prozent verworfen wurden, befand sich auch die dortige «Engpassbeseitigung»: Neben einer zusätzlichen Röhre beim Rosenbergtunnel war mit der «Spange Güterbahnhof» ein vierter städtischer Autobahnanschluss vorgesehen gewesen. «Dessen Umsetzung würde bedeuten, dass wir während zehn Jahren eine riesige Baustelle mitten in St. Gallen hätten – und anschliessend dauerhaften Mehrverkehr», sagt Ryser. Darauf hat eine Mehrheit in der Stadt offensichtlich keine Lust, 55 Prozent sagten dort Nein zum Ausbauschritt.

Die Erleichterung war gross in St. Gallen – ebenso wie es nun, kein Jahr später, die Ernüchterung und das Entsetzen sind. Denn was man nach aller demokratiepolitischen Vernunft für abgewendet halten durfte, ist in Bundesbern jetzt wieder auf dem Tisch. Und zwar ganz oben auf dem Verkehrsprojektestapel: In einem letzte Woche präsentierten Gutachten von Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme und Vizepräsident der ETH Zürich, landete das Ansinnen in der Kategorie mit der höchsten Priorität. Was gemäss Bericht besagt: «Der Bedarf ist bereits kurz- und mittelfristig hoch und die generelle Gesamtwirkung ist gut.»

Als Kopräsidentin der verkehrspolitischen Umweltorganisation Umverkehr hat Franziska Ryser den Abstimmungskampf gegen den Autobahnausbau massgeblich mitgeführt. «Dass das Resultat nun einfach keine Rolle spielen soll, ist ein Affront gegenüber unserem direktdemokratischen System», sagt sie. Damit werde eine rote Linie überschritten – während gleichzeitig der Druck, in der Schweiz eine Verkehrswende hinzubekommen, alles andere als kleiner geworden sei.

Ein dreistes Manöver

Nicht nur in St. Gallen ist das Unverständnis gross, auch anderswo tauchen die abgeschmetterten Autobahnausbauten aus der Versenkung auf. So wird der Rheintunnel, den über 56 Prozent im Kanton Basel-Stadt – und über 64 Prozent in der ebenfalls betroffenen Gemeinde Birsfelden in Baselland – abgelehnt haben, im Gutachten auch als wichtig eingestuft. Und bei Bern soll zwischen Wankdorf und Schönbühl der Autobahnausbau auf acht Spuren, zumindest «bei entsprechender Mittelverfügbarkeit», höchste Priorität haben.

Neun Monate hatten Professor Weidmann und sein Mitautor Michael Nold Zeit, um rund 500 bestehende Bahn-, Strassen- und Agglomerationsprojekte zu sichten und deren Umsetzung nach verkehrswissenschaftlichen Kriterien zu rastern. Was soll bis 2045 gebaut werden, was lässt sich aufschieben, wo gibt es alternative Lösungen? Gruppiert nach geografischen Regionen, entstand eine lange Priorisierungsliste für die nächsten Jahre und darüber hinaus. «Dem Bericht selbst kann man nicht viel vorwerfen», sagt Franziska Ryser, rein methodisch sei dieser solide erstellt worden. «Das Problem liegt stattdessen im Auftrag und in den Rahmenbedingungen vonseiten des Bundesrats.» Mit dem Uvek war es das Departement von Verkehrsminister Albert Rösti, das Weidmann indirekt den Auftrag erteilte, sich über das Abstimmungsresultat hinwegzusetzen.

In Stein gemeisselt ist mit dem Gutachten freilich noch nichts. Es biete lediglich eine Grundlage, um nun politische Entscheide zu treffen, unterstrich Rösti vergangene Woche an der Pressekonferenz. Trotzdem bestehen kaum Zweifel daran, dass der Bundesrat mit dem rund siebzig Seiten umfassenden Dokument die verkehrspolitischen Weichen stellen will. Schliesslich ist es Röstis direkte Antwort auf die Niederlage vom letzten November, die er bald darauf zur «Chance» umdeutete: um einen Schritt zurück zu machen und unter dem Namen «Verkehr ’45» eine «moderne, gesamtheitliche und verkehrsträgerübergreifende Planung» einzuleiten.

Was zunächst vernünftig klingt, ist in Wahrheit ein dreistes Manöver des SVP-Bundesrats. Denn nicht nur reanimierte er damit die sechs verhinderten Autobahnprojekte, er vollzog gleich noch einen zusätzlichen Schritt: Weil sich beim geplanten Ausbau der Bahninfrastruktur Mehrkosten in Milliardenhöhe abzeichnen, warf er kurzerhand auch Dutzende geplante Schienenprojekte in denselben Topf wie den Nationalstrassenausbau. Ein Volksentscheid soll also etwa das gleiche demokratische Gewicht haben wie die Geldsorgen des Bundes.

Leerstelle Klima

Beim VCS, dem Verband für eine klimafreundliche Mobilität, sei man noch dabei, das Gutachten detailliert auszuwerten, sagt Kopräsidentin Jelena Filipovic. Jetzt schon möchte aber auch sie deutlich sagen: «Dass der Autobahnausbau da weiterhin drin ist, erachten wir als absolutes No-Go.»

Demgegenüber hebt sie aber auch einen positiven Aspekt hervor: Das Gutachten mache deutlich, dass für den Bahnausbau in den nächsten zwanzig Jahren zehn Milliarden Franken mehr an Bundesgeldern gebraucht würden, als derzeit zur Verfügung stünden. Rösti wirkt durchaus gewillt, diese Finanzierung zu bewerkstelligen – wenn auch «schuldenbremsenkonform», wie er sagt, und unter Achtung der für den Bahninfrastrukturfonds geplanten Sparübungen. Die Lösung sieht er in einer Fortführung der aktuell nur bis 2030 vorgesehenen Mehrwertsteuerbeiträge.

Grundsätzlich sei ein wissenschaftlicher Blick auf die Verkehrspolitik des Bundes überhaupt nichts Schlechtes, sagt Filipovic auch. Aber sie mahnt: «Das ETH-Gutachten darf dem Bundesrat nicht dazu dienen, Tatsachen zu schaffen.» Was gerade als visionärer Wurf verkauft werde, enthalte schliesslich nichts Neues, sondern lediglich eine hauptsächlich kostenorientierte Sortierung bereits bestehender, teils auch veralteter Projekte.

Mit Blick auf die versprochene «Ganzheitlichkeit» des Gutachtens gibt Filipovic ausserdem zu bedenken: «Warum wurde die Priorisierung denn trotzdem jeweils innerhalb von sieben regionalen Clustern vorgenommen?» Es fehle eine grundsätzliche Auseinandersetzung, wo es mit der gesamtschweizerischen Verkehrsinfrastruktur in diesem Jahrhundert hingehen soll. «Eine ganzheitliche Betrachtung des Verkehrs, des zweitgrössten CO₂-Emittenten im Land, muss zudem auch die gesetzlichen klimapolitischen Vorgaben einbeziehen», sagt Filipovic.

Tatsächlich findet im ETH-Gutachten das Schweizer Netto-null-Ziel keine explizite Erwähnung. Gemäss Dienstleistungsvertrag zwischen Uvek und ETH, der der WOZ vorliegt, wurde dieser Fokus von den Autoren auch gar nicht ausdrücklich gefordert – wobei im Auftrag ohnehin überraschend vage formuliert ist, welche Kriterien im Priorisierungsverfahren anzuwenden seien. Und dem Gutachten ist nicht zu entnehmen, wie etwa die genannten Teilkriterien «Energieverbrauch» oder «Klimawirkung» genau beziffert wurden: Inwiefern also beispielsweise die zu erwartende Erzeugung von Mehrverkehr einen Einfluss auf den Priorisierungsgrad eines Strassenprojekts hatte, ist unklar.

Gefährliche Verknüpfung

Bis im nächsten Sommer will der Bundesrat eine Vernehmlassungsvorlage erarbeiten, 2027 soll die Parlamentsdebatte starten. Einige Alarmglocken läuteten auf linker Seite letzte Woche auch deshalb, weil Albert Rösti einen verkehrspolitischen «Mantelerlass» angekündigt hat, in dem sich «die Zusammenhänge der Projekte trägerübergreifend aufzeigen» liessen. Anders als bisher sollen Strassen- und Bahninfrastruktur im Parlament nicht zeitlich verschoben, sondern «parallel geschaltet» behandelt werden, so Rösti.

Es ist nicht neu, dass auf bürgerlicher Seite versucht wird, die Finanzierung von Bahnprojekten davon abhängig zu machen, dass auch Strassenausbauten beschlossen werden. «Es ist absehbar, dass entsprechende Anträge wieder auf den Tisch kommen», sagt Grünen-Politikerin Ryser. Und auch wenn Rösti verspricht, dass gegen Bundesbeschlüsse zu Nationalstrassen und Bahn auch weiterhin separate Referenden möglich sein werden, dürften durch die zeitgleiche Parlamentsdebatte neue Dynamiken entstehen. «Eine Verknüpfung von Strassen- und Schienenprojekten wäre sehr gefährlich», sagt Ryser. «Schlechte Autobahnprojekte können nicht mit guten ÖV-Projekten legitimiert werden.»