Verkehrspolitik: Sankt Autobahn
Was macht das Auto mit einer Stadt – und mit ihrer Demokratie? Eine Rundfahrt durch die St. Galler Geschichte mit einem Autolobbyisten, einer Klimaaktivistin, einem Historiker und einem Clown.
«Eines musst du wissen», sagt Pic, während er auf die mit Fotos und Flyern vollgepinnte Wand seines Ateliers zugeht. «St. Gallen war damals eine graue Stadt.» Er zeigt auf ein Foto, auf dem ein Strassenzirkus mitten in verwitterten Häusern zu sehen ist. Richard Hirzel, wie der später international gefeierte Clown bürgerlich heisst, hatte den Zirkus als 26-Jähriger initiiert. Dicht gedrängt sitzen die Zuschauer:innen auf selbstgezimmerten Holztribünen und auf den umliegenden Dächern. Lichterketten erhellen die Szenerie, gleich beginnt die Vorstellung. «Der Orchesterdirigent schwebte zum Auftakt an einem Seil zu seinen Musiker:innen», erinnert sich Pic. Das Foto an der Wand ist schon fast vergilbt. Doch man kann sich noch immer vorstellen, was für einen Farbanschlag auf das graue St. Gallen der Zirkus Pic-o-Pello 1975 bedeutet hat.
Nächstes Jahr wird es fünfzig Jahre her sein, dass der Zirkus aufspielte. Doch noch immer erzählen sich die St. Galler:innen davon, als wäre es gestern oder höchstens vorgestern gewesen: Das mag damit zu tun haben, dass der später nach dem Zirkus benannte Pic-o-Pello-Platz hinter dem Kloster heute einer der schönsten in der Altstadt ist. Zwei Kleintheater finden sich hier, beliebte Gartenbeizen, und biegt man kurz ums Eck, kann man durch ein Fass des Künstlers Roman Signer in den St. Galler Untergrund blicken. Dass der Zirkus noch immer vielen ein Begriff ist, liegt aber auch daran, dass den Artist:innen ein heimliches Kunststück gelungen ist, über das sie öffentlich kein Wort verloren: die Stadtbevölkerung auf die Schönheit des Quartiers aufmerksam zu machen – und seinen Abriss für eine geplante lokale Umfahrungsstrasse zu verhindern.
Auch wenn am Ende nicht der bunte Zirkus, sondern politischer Widerstand und fehlendes Geld diese Südumfahrung der Innenstadt gestoppt haben: Die Episode erinnert daran, mit welcher Wucht der Autoverkehr die Schweizer Städte seit dem Zweiten Weltkrieg verändert hat, sie bis heute weiter umgestaltet. Wie wenig die betroffenen Anwohner:innen mitzubestimmen haben, die Auseinandersetzungen dennoch die regionale Politik prägen und der Protest oft kreativ ist. Und um welche Grundsatzfrage es bei der Abstimmung vom 24. November über den Ausbau der Nationalstrassen letztlich geht, der auch St. Gallen mit einem neuen Zubringer beglücken soll: In welchen Städten wollen wir leben?
Eine Reise in die USA
Es klingt wie ein verkehrshistorischer Treppenwitz: Die Geschichte des Schweizer Autobahnbaus wurde ausgerechnet durch eine Flugreise der Swissair geprägt. Die Airline gewährte 1955 der mehr als dreissigköpfigen Planungskommission des Bundes einen grosszügigen Rabatt für einen Flug in die USA. Den Aufenthalt vor Ort hätten dann Erdölmultis wie BP und Esso bezahlt, schreibt George Kammann in seinem Buch «Mit Autobahnen die Städte retten?». In den USA, wo die meisten der Schweizer Planer zum ersten Mal waren, besichtigten sie auch Stadtautobahnen. Und dieses Konzept der kreuzungsfreien «Expressstrassen» brachten sie nun zurück in die Schweiz. Erste Autobahnpläne der Schweiz waren bereits im Zweiten Weltkrieg entworfen worden, Ausbauten der Haupt- zu Fernverkehrsstrassen nach deutschem Vorbild wurden als Arbeitsbeschaffungsmassnahmen für die Zeit nach dem Krieg geplant. Doch die erwartete Wirtschaftskrise blieb aus, der Konsumboom setzte ein, von den Nazis und ihren Autobahnen wollte man sowieso lieber nichts mehr wissen: Die Nationalstrassen, wie sie genannt wurden, sollten nun nach US-Vorbild nicht mehr nur die Städte verbinden, sondern durch sie hindurchführen – auch durch St. Gallen.
Ein begeistertes Mitglied der Planungskommission und Teilnehmer der USA-Reise war der damalige kantonale St. Galler Baudirektor Simon Frick. In seinen Memoiren beschreibt er nicht ganz uneitel, wie er eine «Urzelle des Autobahnbaus» im Rheintal plante, St. Margrethen als Ausgangspunkt sowohl der «Ost-West-Achse» wie der «Nord-Süd-Alpentransversale» durchsetzte und nicht zuletzt den Anschluss der Kantonshauptstadt St. Gallen ans Nationalstrassennetz sicherstellte. Frick im O-Ton: «Es ist eine alte Weisheit geschichtlicher Erfahrung, dass gute Verkehrswege und eine günstige Verkehrslage das geistige und wirtschaftliche Leben der von ihnen erfassten Menschen begünstigen.» Im englischen Begriff der City, der sich bis heute auf Strassenwegweisern quer durch die Schweiz findet, verschmolzen dieses geistige und wirtschaftliche Leben, wurden die Stadt- zu Geschäftszentren mit Autobahnanschluss und Parkhäusern.
Peter Stahlberger, Historiker und ehemaliger Ostschweizkorrespondent für die NZZ und den «Tages-Anzeiger», hat die Geschichte der Stadt St. Gallen seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart erforscht, sein Buch erscheint nächstes Jahr. «Das Auto war nach dem Krieg ein Symbol für die Befreiung aus der Enge der Welt», sagt er im Gespräch in seiner St. Galler Wohnung. Die Zeitungen waren voll mit Inseraten für neue Automodelle, benannt nach Sehnsuchtsorten, beispielsweise der Ford «Capri» oder der Opel «Ascona». Die Amerikabegeisterung zeigte sich dabei nicht nur in der Autobahnkonzeption, sondern auch bei Autogaragen, in St. Gallen etwa bei der baulich eleganten – da ist das Wort schon wieder – «City-Garage».
Wie stark der Autoverkehr in St. Gallen wuchs, belegt Stahlberger mit Zahlen. War der Treibstoff im Krieg rationiert und der private Autoverkehr nur für wirtschaftliche Zwecke erlaubt, stieg die Zahl der Personenwagen in St. Gallen zwischen den Jahren 1945 und 1954 von 258 auf 3377, im Verhältnis praktisch gleich wie in der übrigen Schweiz. Heute besitzen die Bewohner:innen St. Gallens rund 35 000 Autos, wobei die Zahl seit fast zehn Jahren praktisch stagniert. Und natürlich fliesst ganz viel Verkehr von ausserhalb in die Stadt. Dieser «Ziel- und Quellverkehr», wie er im Planungsjargon heisst, sollte mit den Expressstrassen möglichst optimal in die und aus der City gelenkt werden.
Geplanter Ausbau der Autobahn in St. Gallen
Das umstrittenste Projekt in der Schweiz, das Zürcher Ypsilon mit spektakulärem Autobahndreieck beim Hauptbahnhof, scheiterte. In St. Gallen hingegen wurde die sogenannte Stadtautobahn Realität, wenn auch erst über die Jahrzehnte. 1958 wurde der Nationalstrassenbau in einer Volksabstimmung als Bundesaufgabe festgeschrieben, wenig später das von der Planungskommission skizzierte Netz vom Parlament angenommen. Im St. Galler Hochtal waren eine Ausfahrt im Osten und eine im Westen vorgesehen, die auch bald gebaut wurden – lange umstritten blieb jedoch die Linienführung durch die Stadt.
«Wie bei allen Infrastrukturvorhaben in der Kompetenz des Bundes konnte der Bau an sich vor Ort nicht mehr infrage gestellt werden», sagt Historiker Stahlberger. «Bemerkenswert ist, dass sich in St. Gallen wie auch in Basel dennoch oppositionelle Vorschläge zur offiziellen Linienführung durchsetzten.» In St. Gallen schlug die definitive Lösung die örtliche Sektion des Schweizerischen Ingenieurs- und Architektenvereins vor. Führt die Autobahn heute zuerst im Westen am Rand der Stadt durch und dann durch den Rosenbergtunnel, zerschneidet sie im Osten im St.-Fiden-Quartier die historische Siedlungsstruktur.
1987 wurde die Stadtautobahn eröffnet. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen: «Eröffnung der Schnittwunde», hiess es auf einem Transparent, das der junge SP-Nationalrat Paul Rechsteiner und der spätere Sklavereihistoriker Hans Fässler an der Eröffnungsfeier aufspannten. Oder wie Simon Frick die Szene in seinen Memoiren beschreibt: «Da die beiden ‹Störenfriede› das Transparent gerade vor meinen Augen rasant entrollten, war ich derart erbost, dass ich ohne Erfolg versuchte, es niederzureissen.» Knapp vierzig Jahre später nun soll Fricks Werk fortgesetzt werden.
«Der Fuchs muss ins Loch!»
Walter Locher sitzt im Restaurant Gartenhaus am Rand des St. Galler Güterbahnhofareals, und irgendwann im Gespräch sagt er: «Der Fuchs muss ins Loch!» Die vier bisherigen Zubringer zur Stadtautobahn genügten nicht, beim Güterbahnhof müsse ein fünfter her, aber ein unterirdisch geführter, nach dem Vorbild Fuchsbau eben. Locher trat diesen Frühling nach mehr als zwanzig Jahren aus dem St. Galler Kantonsrat zurück, das «Tagblatt» hat ihn zum Abschied als «freisinnigen Wirtschaftslobbyisten und Strippenzieher alter Schule» bezeichnet.
Seinen Einfluss hat Locher all die Jahre genutzt, um im Kantonsparlament die rechte Übermacht von FDP, SVP und Mitte-Partei auch in der Verkehrspolitik in der Spur zu halten – und dafür zu sorgen, dass bei den Beratungen im Kanton und in Bundesbern über die Ergänzung der Autobahnen St. Gallen bloss nicht vergessen geht. 2009 reichte er im Kantonsrat einen ersten Vorstoss zur «Engpassbeseitigung» ein, nun sieht sich Locher, der auch die gleichnamige «IG Engpassbeseitigung» präsidiert – einen Zusammenschluss der Wirtschafts- und Autoverbände sowie der bürgerlichen Parteien –, fast am Ziel: «Wir werden gewinnen.»
Das Bemerkenswerte am Autobahnbau ist nicht nur, wie er über viele Jahrzehnte planvoll und unerbittlich ins Werk gesetzt wurde. Sondern auch, dass sich daraus eigentliche politische Erbfolgen ergeben haben: Walter Locher trat als junger Anwalt in die Kanzlei von Simon Frick ein, die der vormalige Bauchef nach seinem Rücktritt aus der Regierung führte. «Bis zu einem gewissen Grad hat er mich sicher geprägt», sagt Locher beim Kaffee. «Insbesondere seine Devise, dass die infrastrukturelle Erreichbarkeit einer Region die Garantie für die wirtschaftliche Entwicklung ist.» Die Stadtautobahn ist für Locher eine Erfolgsgeschichte, 85 Prozent darauf sei innerstädtischer Verkehr, nur 15 Prozent Durchgangsverkehr. Bloss eben: Der Mehrverkehr könne schon heute nicht mehr aufgenommen werden, bei Unfällen komme es immer wieder zu Rückstaus auf der Autobahn und im städtischen Netz, darum also brauche es den neuen Zubringer. «Wenn wir jetzt das Gesamtsystem nicht erneuern, ertrinkt die Stadt in fünfzehn oder zwanzig Jahren im Verkehr.»
1,5 Milliarden Franken soll das St. Galler Projekt insgesamt kosten, es ist eines der teuersten der sechs Ausbauprojekte in der Schweiz, über die am 24. November abgestimmt wird. Es beinhaltet mehrere Elemente: Zunächst soll der Rosenbergtunnel auf der Hauptstrecke der Stadtautobahn saniert und um eine dritte Röhre ergänzt werden. Dazu kommt die Ausfahrt am Güterbahnhof mit einem unterirdischen Kreisel: Von hier aus soll es auf zwei Seiten in die Stadt gehen – oder durch einen Tunnel hinauf nach Teufen in Appenzell-Ausserrhoden (vgl. Grafik). 1,3 Milliarden der Kosten wird der Bund übernehmen, der alles bis und mit dem unterirdischen Kreisel bezahlt. Die weiteren Bauten sollen nach gegenwärtigen Schätzungen 150 bis 200 Millionen Franken kosten. Den grössten Teil übernimmt der Kanton St. Gallen, kleinere Beiträge Ausserrhoden und die Stadt.
Léonie Schubiger spaziert durch das Wattbachtobel. Die Sonne durchbricht den Nebel, im Tobel herrscht an diesem Herbstabend eine fast schon mystische Stimmung. Eine Wandertafel informiert über die Sitter- und Wattbachlandschaft, ein Schutzgebiet mit naturnahen Steilhangwäldern und seltenen Pflanzenarten. Schubiger schaut allerdings nicht in die Natur, sondern auf ihr Handy. Sie versucht, den Standort der künftigen Autobahnbrücke zu finden – hier irgendwo hoch über den Baumwipfeln sollen die Autos künftig aus dem Tunnel schiessen und über eine Brücke Richtung Ausserrhoden abbiegen. Schubiger hat kürzlich begonnen, Bauingenieurswissenschaften an der ETH in Zürich zu studieren. «Und natürlich hoffe ich schon, dass ich diese Brücke dereinst bauen darf.» Schubiger meint es ironisch, sie begann sich während der Kantonsschule für den Klimastreik zu engagieren, trat der Juso bei, ist auch im Verkehrs-Club der Schweiz aktiv – und das jüngste Vorstandsmitglied im «Verein gegen den Autobahnanschluss beim Güterbahnhof», dem politischen Gegenstück zu Lochers «IG Engpassbeseitigung».
Für Schubiger steht bei ihrem Engagement vor allem die Klimafrage im Vordergrund. «Mit diesem Projekt werden die Prioritäten verkehrt gesetzt.» Für den Autobahnausbau gebe man Milliarden aus – zugleich wolle der Bund bei Massnahmen zum Klimaschutz wie den Nachtzügen sparen. Vor allem aber trage das Projekt kräftig zum CO₂-Ausstoss bei. «Während zehn Jahren werden wir eine riesige Baustelle haben, werden Lastwagen quer durch die Stadt fahren. Beim Bau werden schätzungsweise 450 000 Tonnen CO₂ ausgestossen.» Hinzu komme, dass neue Strassen auch neue Mobilitätsbedürfnisse weckten. «Auf der Verbindung nach Ausserrhoden rechnet selbst der Kanton bis 2040 mit einem Zuwachs des Verkehrs um fast fünfzig Prozent.» Auf Lochers Aussage angesprochen, dass der Fuchs nun mal ins Loch müsse, sagt Schubiger: «Was unterirdisch unterwegs ist, kommt auch irgendwo wieder an die Oberfläche.» Beim Güterbahnhofareal, mitten in der Stadt also, würde ein riesiger Verkehrsschlund mit fünfspuriger Ein- und Ausfahrt entstehen.
Plötzlich dieser Widerstand
Dass der Strassenbau derart polarisiert, ist historisch ein jüngeres Phänomen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er lange unumstritten – bis in den siebziger Jahren ein neues, kritisches Bewusstsein erwachte. Historiker Stahlberger sieht drei Gründe für die veränderte Wahrnehmung: erstens ein neues Verständnis für die Umwelt, wie es sich im Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums oder auch in der Abstimmung über einen eidgenössischen Umweltschutzartikel zeigte, der 1971 mit sagenhaften neunzig Prozent angenommen wurde. Zweitens die Erdölpreiskrise, die mit der anschliessenden Rezession die wirtschaftliche Abhängigkeit von fossilen Energien und den Förderstaaten vor Augen führte. Und drittens das Frauenstimmrecht. «Die Frauen waren für Umweltanliegen sensibilisierter als Männer, was sich früher oder später auch in Abstimmungsresultaten niederschlug», sagt Stahlberger.
In St. Gallen regte sich in den Siebzigern als Erstes Widerstand gegen die Rodung von Bäumen für eine Strassenverbreiterung. Es folgte der Protest mit dem Strassenzirkus gegen die Südumfahrung, die sich als lokales Projekt verhindern liess. An der Stadtautobahn hingegen und insbesondere an der Ausfahrt St. Fiden gab es nichts zu rütteln. Vergeblich versuchten die Kritiker:innen, eine Konsultativabstimmung im Stadtparlament zu verhindern, und auch eine Petition mit 15 000 Unterschriften an die eidgenössischen Räte blieb wirkungslos. Die städtische SP kritisierte in einem «Graubuch» zur Verkehrspolitik diese «Beton-Demokratie»: «Das ganze Prozedere ging ohne einen Urnengang über die Bühne. […] Entschieden wurde schliesslich weit weg, in Bern.»
Auch im aktuellen Abstimmungskampf ist die Frage umstritten, wer am Ende über den Zubringer entscheidet: die Stadt oder der Bund? Für Walter Locher ist der Fall klar: 2016 habe die Stadtbevölkerung eine SP-Initiative, die einen Verzicht auf eine Autobahneinfahrt am Güterbahnhof forderte, mit 63 Prozent bei einer Stimmbeteiligung von 64 Prozent abgelehnt. «Wenn die eidgenössische Vorlage angenommen wird, dann ist das Projekt des Bundes verpflichtend.» Ohne zusätzlichen Anschluss in die Stadt, das zeigten auch die Berechnungen des Bundesamts für Strassenverkehr (Astra), brächte auch die dritte Tunnelröhre durch den Rosenberg zur Kapazitätserweiterung nichts. Léonie Schubigers Verein wehrt sich – als kleinster gemeinsamer Nenner – nur gegen die zusätzliche Ausfahrt, nicht gegen die dritte Röhre. «Zuerst einmal setzen wir uns für ein städtisches Nein am 24. November ein, damit zum Ausdruck kommt, dass die Stadtbevölkerung diese Ausfahrt, wie sie nun als konkretes Projekt vorliegt, nicht will.» Falls der Ausbau national angenommen würde, gäbe es später immer noch die Möglichkeit, sich gegen die kantonalen und kommunalen Zubringerstrassen zu wehren und so das Projekt zum Kippen zu bringen.
Eine Sichtweise, die der verantwortliche städtische Bauvorsteher Markus Buschor (parteiunabhängig) auf Anfrage bestätigt: Der Kanton müsse die Stadt gesetzlich vorgeschrieben um eine Vernehmlassungsantwort bitten, die wiederum vors Stimmvolk gebracht werden könne. «Wenn das Projekt auf diesem Weg abgelehnt wird, dann kommt der Zubringer mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit nicht.» Seines Wissens hat das Astra bei einem kommunalen Nein noch nie ein Projekt weiterverfolgt. Beim Bundesamt heisst es auf Nachfrage ausweichend: «In ähnlichen Fällen hat der Bund den demokratischen Entscheid in den Regionen abgewartet und anschliessend die Folgen für das Gesamtprojekt analysiert.»
«Veraltetes Denken»
Im Restaurant Gartenhaus, das wegen des neuen Zubringers abgebrochen werden müsste, werden schon die grossen Ketchupflaschen fürs Mittagsschnitzel aufgetragen. Zeit für einen kleinen Rundgang. «Es wird hier immer noch gleich aussehen – einfach viel schöner», sagt Walter Locher vor dem lang gezogenen alten Güterbahnhofsgebäude, das heute unter anderem als Konzertlokal und als Velowerkstatt genutzt wird. «95 Prozent des Zubringers werden unterirdisch verlaufen. Es werden oberirdisch weiterhin alle denkbaren städtischen Nutzungen möglich sein. Wenn hier nach dem Willen der Bevölkerung zum Beispiel ein Stadtpark entstehen soll, dann gibt es einen Stadtpark.» Im Kantonsrat hat Locher zwar immer alles dafür getan, dem Auto den Vortritt zu gewähren, etwa mit seinem Einsatz gegen die Möglichkeit der Einführung von Tempo 30 auf Kantonsstrassen. Nun ist es ihm aber wichtig zu betonen, dass die neue Ausfahrt für alle Verkehrsträger einen Nutzen bringe: «St. Gallen hat Stadtbusse im öffentlichen Verkehr – auch die bleiben im Stau stecken.» Vor allem aber: Die neue Verbindung nach Ausserrhoden entlaste die Quartiere, mache sie wieder lebenswerter. Aus seinem schnittigen Audi A7, mit dem Locher vorgefahren ist, holt er eine Werbefahne seiner IG: «Autos in den Tunnel, lebenswerte Quartiere».
Für Léonie Schubiger bleibt das Projekt trotz der schönen Versprechen eine Fortsetzung der Pläne aus dem 20. Jahrhundert. Ob die Strassen nun oberirdisch geführt oder tiefer gelegt werden, das Stadtleben habe sich erneut nach den Autos auszurichten. «Das ist ein veraltetes Denken, mit dem wir auch die Klimaziele niemals erreichen.» Für das Projekt nehme man erneut in Kauf, dass alte Häuser abgerissen würden und das wertvolle innerstädtische Gebiet des Güterbahnhofs frühstens ab 2040 neu genutzt werden könne. «Von der Belastung des Wattbachtobels ganz zu schweigen.» Sie sei nicht pauschal gegen Autos, betont Schubiger. «Es gibt Menschen, die im derzeitigen System darauf angewiesen sind, da der öffentliche Verkehr zu teuer und das Netz zu wenig dicht ist.» Aus sozialer Sicht müsse er deshalb ausgebaut und billiger werden. Wie Locher ist auch sie überzeugt, die Abstimmung zu gewinnen: Aus der Bevölkerung spürt ihr Verein viel Unterstützung. Jüngere und Ältere würden an die Infoveranstaltungen kommen. «Ich bin sehr zuversichtlich, dass es am 24. November in der Stadt ein Nein gibt. Vielleicht liegt auch in der ganzen Schweiz eine Überraschung drin.»
Im Atelier von Clown Pic ist gegen Ende des Besuchs eine Frau mit alten Dias zum Strassenzirkus eingetroffen. Sie veranstaltet damit einen Abend vor der Abstimmung. Pic selbst hat die Fotos noch nie gesehen, schaut sich all die Artist:innen an, die Schlangenbeschwörer, Feuerschluckerinnen und Kraftprotze, die er damals in der ganzen Region gesucht und auch gefunden hat. Eigentlich hole er die alte Geschichte mit dem Strassenzirkus gar nicht so gerne aus der Erinnerung hervor, sagt Pic. «Zu gross war der Kampf und Krampf mit den Behörden um die Bewilligungen.» Aber wenn es für die aktuelle Abstimmung etwas bringe, dann erzähle er gerne davon. Auch bei der Demonstration im Sommer gegen den Autobahnausbau sei er mitspaziert. Dann wird der Clown mit der sanften Stimme plötzlich sehr deutlich: «Man muss nur nach St. Fiden gehen, wenn man sehen will, wie man ein Quartier zerstören kann. Wir brauchen wirklich kein weiteres Beispiel.»
Die Diashow zum Zirkus Pic-o-Pello findet am Freitag, 8. November 2024, um 20.15 Uhr im Kulturzentrum Palace in St. Gallen statt. Am Dienstag, 12. November 2024, um 20.15 Uhr moderiert WOZ-Redaktor Kaspar Surber dort ein Streitgespräch zum Autobahnausbau mit Franziska Ryser (Grüne) und Oskar Seger (FDP).
Anmerkung vom 11. November 2024: In der gedruckten Ausgabe sowie in der früheren Version dieses Artikels haben wir im Bild eine spiegelverkehrte Vogelperspektive auf die «Schnittwunde» gezeigt. Für das Versehen bitten wir um Entschuldigung.