Durch den Monat mit Nora Hunziker (Teil 2) : Was machen Sie, wenn Sie jemand stresst?

Nr. 19 –

Man kann die eigene Persönlichkeit aus der sozialen Arbeit nicht einfach rausrechnen, sagt Gassenarbeiterin Nora Hunziker. Und erzählt, wie sie mit dem Machtverhältnis in der Beziehung zu ihren Klient:innen umgeht.

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Portaitfoto von Nora Hunziker
«Wenn sich alle über dieselbe Person aufregen, schauen wir, dass sich jemand ihrer eingehend annehmen kann: Gut möglich, dass das Nerven ein Hilfeschrei ist»: Nora Hunziker.

WOZ: Nora Hunziker, Sie arbeiten seit sechseinhalb Jahren als aufsuchende Sozialarbeiterin in der Stadt Bern. Das schliesst die Coronazeit mit ein. Was hat diese verändert?

Nora Hunziker: Vor und nach Corona, das fühlt sich manchmal ein bisschen an wie eine Zeitenwende … Das hat auch mit strukturellen Veränderungen bei uns im Team zu tun. Wir sind mehr Teammitglieder auf der Gasse und haben heute ein anderes, grösseres Lokal als damals. Es finden mehr Leute den Weg zu uns, die den Lebensmittelpunkt zwar nicht auf der Gasse haben, aber sonst in extrem prekären Lebensumständen sind. Corona hat viele Leute aus der Bahn geworfen. Mittlerweile kommen viele solche Fälle zu uns: Kurzarbeit mit achtzig Prozent des Lohns, da haben dann eben zwanzig Prozent gefehlt. Das holst du je nachdem nie mehr auf.

WOZ: Wer kommt als Klient:in zu Ihnen?

Nora Hunziker: Menschen mit Lebensmittelpunkt auf der Gasse und in prekären Lebenslagen, wohnungslose Menschen und solche in prekären Wohnsituationen. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, einsame Menschen. Alle sind armutsbetroffen, viele erleben Gewalt, früher oder aktuell, auch viel Beziehungsgewalt. Menschen, die suchtkrank sind, die durch die Netze fallen – Frauen, die suchtkrank sind, dürfen zum Beispiel nicht ins Frauenhaus. Oder solche, die anderswo erlebt haben, dass man ihnen nicht zuhört oder nicht glaubt, weil sie Drogen konsumieren oder weil sie Sexarbeiterinnen sind. Grundsätzlich sind es oft Leute, die früh im Leben viel Scheiss erlebt haben.

WOZ: Sind seit Corona mehr Leute auf der Gasse unterwegs?

Nora Hunziker: Die Situation in den Notschlafstellen ist kritisch, es sind viel mehr Leute auf einen Platz angewiesen als damals, als ich angefangen habe. Trotzdem finde ich es schwierig, das abzuschätzen. Manchmal fühlt es sich schon so an. Das könnte aber auch daran liegen, dass in den Medien mehr berichtet wird – man fragt sich dann, wovon die eigene Wahrnehmung beeinflusst ist. Man kann sich selbst nicht aus der Situation rausrechnen.

WOZ: Wie meinen Sie das?

Nora Hunziker: Wir haben unser Team in den letzten Jahren von drei auf fünf Personen aufgestockt: Mit jeder Person, die im Team dazukommt, kommt in der Regel auch eine neue Klient:innengruppe dazu, die vielleicht sonst untergegangen wäre. Wir sind heute vier Frauen im Team, und es kommen mehr Klientinnen zu uns – heisst das nun, dass es tatsächlich mehr Frauen auf der Gasse gibt? Oder dass sie früher eher untergingen? Manche von uns können es mit den Lauten gut und sehen die Leisen im alltäglichen Chaos nicht mehr, andere haben einen besseren Zugang zu den Leiseren … Die eigene Persönlichkeit spielt eine grosse Rolle. In letzter Zeit habe ich in diesem Zusammenhang oft über das Konzept der «professionellen Nähe» nachgedacht.

WOZ: Wie würden Sie diese beschreiben?

Nora Hunziker: Wir sind mit den Leuten sehr kollegial, manchmal nah an einer Freundschaft. Trotzdem muss klar bleiben, dass ich angestellt bin und mein Gegenüber hilfesuchend zu mir kommt. Mir geht es darum, dass ich bei der Arbeit keine andere Persönlichkeit aufsetze als in meiner Freizeit, ich also auch mal einen schlechten Tag haben und das kommunizieren darf. Ich darf traurig sein, wenn mir jemand etwas Schlimmes erzählt, und dieser Person sagen: Bitte nicht alle Details, das ist mir zu viel. Umgekehrt dürfen die Leute etwa auch mal wütend auf mich sein.

WOZ: Wie steht es um das Machtverhältnis in diesen Beziehungen?

Nora Hunziker: Das gibt es immer. Schon nur deshalb, weil ich sehr behütet aufgewachsen bin, ein grosses soziales Netz habe, das mich auffängt. Es ist mir wichtig, das nicht zu verschweigen: Es stimmt nicht, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Das heisst, ich überspiele mein Privileg nicht – ich kann es nutzen, um Leuten zu helfen, die keines haben.

WOZ: Wie gehen Sie damit um, wenn Sie Klient:innen nicht mögen? Oder sich über sie aufregen?

Nora Hunziker: Das ist ein wichtiger Punkt. Sympathien spielen natürlich eine Rolle. Wir teilen uns im Team auf, zum Glück haben wir unterschiedlich lange Zündschnüre. Und wenn sich alle über dieselbe Person aufregen, schauen wir, dass sich jemand ihrer eingehend annehmen kann: Gut möglich, dass das Nerven ein Hilfeschrei ist. Wir versuchen, den Leuten zu kommunizieren, wenn wir etwas falsch gemacht haben. Kürzlich hatten wir auf der Gasse eine gute Diskussion über diese Beziehungen. Einer sagte dabei: «Euch gibt es ja nur wegen uns.»

WOZ: Stimmt.

Nora Hunziker: Klar. Umgekehrt denke ich, dass ich gar nicht in einer Welt leben will, in der es diese Menschen nicht gibt. Oder dann müsste wirklich alles ganz anders sein. Da ist wahnsinnig viel Weltschmerz, Systemschmerz, sie fallen aus den Rastern, weil sie nicht mitmachen wollen oder können. Und das finde ich in diesem System auch richtig. Genug Geld sollten sie halt haben. Aber die Leute, die in dieser Welt als kurios gelten, muss es unbedingt weiterhin geben.

Nora Hunziker (32) arbeitet als aufsuchende Sozialarbeiterin bei der Kirchlichen Gassenarbeit Bern. Anlässlich der jährlichen Mitgliederversammlung findet am 26. Mai 2025 im Stellwerk Bern eine Veranstaltung zum Thema «Nähe in professionellen Beziehungen» statt.