Zum 8. März: Für meine Mutter

«Du bist eine Feministin», sagte ich zu meiner Mutter. Sie lächelte mich an und fragte: «Was ist das?»

Meine Mutter kannte Feminismus als Begriff nicht und hat uns trotzdem feministisch erzogen. Wir lernten von ihr, an unsere Träume zu glauben. Aus ihrem Mund kam nie ein «Das kannst du nicht machen.» Wenn die anderen Mütter sie ermahnten, dass Mädchen abends nicht nach draussen gehen sollen, erhob meine Mutter ihre Stimme am Tisch und sagte: «Nein, ich werde keinen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen machen.» Wir durften in die Disco gehen, aber wir mussten auch gute Noten schreiben: «Damit ihr eines Tages unabhängig seid.» Meine Mutter zwang uns nicht dazu, den Haushalt zu machen, was ich (oder mein Freund) heute ein wenig bereue. Wenn man sie darauf anspricht, sagt sie: «Meine Tochter ist einzigartig. Niemand ist so schlecht im Haushalt wie sie.»

Meine Mutter hat schon immer Vollzeit gearbeitet – nicht aus feministischen Gründen, sondern aus finanzieller Not. Von einem Fabrikarbeiter:innenlohn konnte man nicht überleben, von zwei schon. Der Traum meiner Mutter wäre es gewesen, Vollzeit-Hausfrau zu sein. Sie beneidete die Schweizer Nachbarinnen mit gutverdienenden Ehemännern, die Zeit hatten, mit ihren Kindern im Sandkasten zu spielen, während sie Arbeiterin und Hausfrau zugleich war.

Meine Mutter kennt Solidarität nicht als Begriff, aber sie kämpft für andere Frauen. Sie geht zu ihrem Chef und setzt sich für ihre Arbeitskolleginnen ein, damit diese einen Festvertrag erhalten. Meine Mutter fühlt mit anderen Frauen mit. Wenn sie ihr von ihren Trennungen und schlagenden Männern erzählen, umarmt sie sie und weint mit ihnen. Danach sendet sie ihnen die Kontakte, an die sie sich wenden können, um Hilfe zu erhalten. Als ihr ehemaliger Arbeitgeber die gesamte Produktionsabteilung abschaffte und Dutzende Frauen vor die Tür setzte, erhob sie einmal mehr ihre Stimme. «Das könnt ihr nicht mit uns machen, das ist nicht fair!», sagte meine Mutter zur Geschäftsleitung. Alle Frauen erhielten eine Abfindung. Sie war klein, aber es ging ihr nicht um Geld, es ging ihr um Würde.

Meine Mutter ist eine alleinerziehende Mutter. Sie hat uns mit nur einem Gehalt durchbringen müssen, und sie hat viele Schicksalsschläge erlebt, aber wenn man sie sieht, strahlt sie. Meine Mutter ist für mich der Inbegriff von Lebensfreude und Liebe.

Heute am internationalen Frauentag widme ich meine Kolumne meiner Mutter, weil ich von ihr gelernt habe, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Frei und feministisch.

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Sie ist Gewerkschafterin, Vorstandsmitglied des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Dolma ist 32 Jahre alt und lebt in  Zürich.