Anti-AKW-Proteste 1975: «Frauen schlagen Alarm»: Widerstand am Oberrhein

Nr. 19 –

Vor fünfzig Jahren haben Umweltschützer:innen gleich mehrere Atomkraftwerke und eine Chemiefabrik verhindert – nicht zuletzt dank des beharrlichen Engagements von Frauen, die sich auf unkonventionelle Weise organisierten.

Diesen Artikel hören (15:58)
-15
+15
-15
/
+15
Umweltschützer:innen blockieren einen Bulldozer bei der Rodung eines Waldes für den Bau des AKW Wyhl
Erster Erfolg: Umweltschützer:innen verhindern 1975 die Rodung eines Waldes für den Bau des AKW Wyhl. Fotos: Archiv soziale Bewegungen Freiburg

«Das ist fast ein Aufruf zur Revolte, eine berechtigte Revolte der Frauen, der Mütter, die wollen, dass ihre Kinder und Grosskinder leben können»: So beschrieb Françoise Bucher 1971 im französischen Fernsehen ihr Engagement gegen den Bau des Atomkraftwerks Fessenheim im Elsass.

Als sie ein Jahr zuvor von den Bauplänen erfahren hatte, tat sich die Kindergärtnerin, Hausfrau und Mutter eines Kindes mit der Lehrerin Annick Albrecht und Esther Peter-Davis, einer Übersetzerin, Hausfrau und Mutter von vier Kindern, zusammen. Sie sammelten Informationen über die Gefahren der Atomtechnologie und druckten eine Broschüre mit dem Titel «Fessenheim. Leben oder Tod des Elsass». Es war der Auftakt zu einer transnationalen und sozial durchmischten Umweltbewegung zwischen dem Elsass und dem deutschen Baden, in der Frauen eine entscheidende Rolle spielten.

Kein Ruhrgebiet am Oberrhein

Anfang der siebziger Jahre sollte nicht nur in Fessenheim ein Atomkraftwerk entstehen. Im Dorf Marckolsheim unweit von Fessenheim wollte ein deutsches Unternehmen ein Bleichemiewerk bauen. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite planten die deutschen Behörden ebenfalls ein AKW: zuerst in Breisach, dann – weil der Widerstand dagegen zu gross wurde – in der Gemeinde Wyhl am Kaiserstuhl, dreissig Kilometer von Freiburg entfernt. Rheinaufwärts in der Schweiz formierte sich ausserdem eine Bewegung gegen das AKW Kaiseraugst (siehe WOZ Nr. 14/25).

Die Gegner:innen dieser Projekte warnten, der Oberrhein würde sich dadurch in ein zweites Ruhrgebiet verwandeln. Für Landwirtschaft, Fischerei und Weinbau hätte es dann keinen Platz mehr. Hinzu kämen grosse gesundheitliche Gefahren. In den Dörfern der Region sowie in Freiburg gründeten sich deshalb Bürger:inneninitiativen. Rasch vernetzten sich die Aktivist:innen. Im August 1974 schlossen sie sich zu einem Verbund von 21 badisch-elsässischen Initiativen zusammen, der den Widerstand gegen Atom und Blei koordinierte.

In einer gemeinsamen Erklärung warnten sie vor den von den Projekten ausgehenden Gefahren und kritisierten die dahintersteckende Profitgier. Von den Behörden sei keinerlei Unterstützung zu erwarten, erklärten sie. «Deshalb haben wir beschlossen, die vorgesehenen Bauplätze für das Atomkraftwerk Wyhl und das Bleiwerk in Marckolsheim gemeinsam zu besetzen, sobald dort mit dem Bau begonnen wird. Wir sind entschlossen, der Gewalt, die uns mit diesen Unternehmen angetan wird, so lange passiven Widerstand entgegenzusetzen, bis die Regierung zur Vernunft kommen wird.»

Einen Monat später begannen die Umweltschützer:innen mit dem gewaltfreien Widerstand. Am 20. September 1974 besetzten sie für vier Monate den Bauplatz der Bleifabrik. Es gelang ihnen dadurch, den Bau der Fabrik zu verhindern.

Im Wyhler Wald jedoch begannen die Abholzungen. Die Atomkraftgegner:innen reagierten am 18. Februar 1975 mit einer weiteren Besetzung. Nach einer polizeilichen Räumung besetzten sie den Platz am 23. Februar erneut: Für neun Monate wurde der Wyhler Bauplatz zu einem Protestcamp, in dem sich Umweltschützer:innen aus verschiedenen Regionen vernetzten. Nach der Besetzung folgte ein jahrelanger Rechtsstreit, der mit der Einstellung des Bauprojekts endete. Auch das AKW Kaiseraugst wurde letztlich nicht gebaut. Die Bewegung konnte damit bedeutende Siege erringen. Einziger Wermutstropfen: 1977 ging das AKW Fessenheim ans Netz.

Politische Erfahrungen

Dieser Widerstand machte Schule. Als Schlagwort für die transnationale Bewegung wurde «Wyhl» zur Referenz für viele Umweltschützerinnen und Atomkraftgegner Europas. Viele (mehrheitlich männliche) Bewegungsforscher und Historiker setzten sich mit der Bewegung auseinander. Was dabei grösstenteils unterging, ist die zentrale Rolle von Frauen.

Einige von ihnen arbeiteten von Beginn an in den Bürger:inneninitiativen mit. Zum Beispiel die 1927 geborene Lore Haag, die zur Vorsitzenden der Initiative im Wyhler Nachbardorf Weisweil wurde. Oder die Elsässer Umweltschützerin Solange Fernex, die die französischen Grünen mit gründete.

Meistens waren es aber Männer, die sich in den Initiativen in den Vordergrund stellten. Frauen arbeiteten im Hintergrund: Sie kümmerten sich um Flugblätter und Plakate, klopften an Haustüren, sammelten Unterschriften und pflegten die Kommunikation zwischen den Dörfern. Viele dieser Arbeiten liessen sich mit ihren Verpflichtungen im Haushalt, auf den Feldern und bei der Kinderbetreuung vereinbaren.

Marie-Reine Haug hält eine Ansprache
Brückenbauerin zwischen Landbevölkerung und städtischen Aktivist:innen: Marie-Reine Haug.

Viele von ihnen engagierten sich zum ersten Mal politisch. Die Sozialwissenschaftlerin ­Margot Poppenhusen hat in den achtziger Jahren Zeitzeuginnen befragt. Eine, deren Name leider nicht überliefert ist, sprach davon, wie freudig und «lebendig» sie sich durch ihren Aktivismus fühlte: «Ich entdeck’ dabei Züge an mir, die ich früher eigentlich nicht gekannt hab’.»

Prägende Erfahrungen machte auch die Studentin Marie-Reine Haug, die aus einer Bäuer:innenfamilie in der Nähe von Marckolsheim stammt. Anfang der siebziger Jahre politisierte sie sich an der Uni in Strassburg, lernte dort die Methode des gewaltfreien Widerstands kennen. In der Bewegung gegen Atom und Blei nahm sie eine wichtige Rolle ein, denn sie konnte aufgrund ihrer Biografie Brücken zwischen der Landbevölkerung und den städtischen Aktivist:innen bauen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben sprach sie vor einer grösseren Menschenmenge. «Dann habe ich natürlich die Glückwünsche und den Applaus von allen bekommen. Das war sehr stark», erzählt sie heute.

Stricken, Sensen dengeln und mehr

Besonders sichtbar war das weibliche Engagement auf den besetzten Plätzen. Dort waren es in erster Linie die Dorffrauen, die für die Aufrechterhaltung des Camplebens sorgten: Sie kochten, buken, brühten Kaffee, spülten Geschirr. Gleichzeitig beaufsichtigten sie Kinder oder arbeiteten für den eigenen Haushalt: Sie strickten, häkelten, flochten Körbe, dengelten Sensen. Häufig waren sie es, die bei Konflikten zwischen der Dorfbevölkerung und den städtischen Aktivist:innen vermittelten.

Da sie in keinem Lohnarbeitsverhältnis standen, konnten die Frauen auch tagsüber den Platz besetzen. In vielen Bäuer:innen- und Winzer:innenfamilien waren die Ehemänner lohnabhängig, während ihre Frauen wochentags den Garten, das Feld oder die Weinreben bestellten. Sie spielten somit eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung einer Familienökonomie, die für die Region identitätsstiftend war.

Viele dieser Landfrauen bezeichneten sich als «Hausfrauen». Das heisst aber nicht, dass sie wie stereotype bürgerliche Hausfrauen zu Hause eingeschlossen gewesen wären. Die «Hausfrau» Friedel Bieselin betrieb zum Beispiel mit ihrem Ehemann die Gemeindewäscherei in Weisweil. An der Wäschemangel habe sie die anderen Frauen des Dorfes mit ihrer Kritik an den Atomkraftwerken «verrückt» gemacht – bis sie viele zur Teilnahme an einer Demonstration gegen Atomkraftwerke bewegen konnte. Reproduktionsarbeit hatte in diesen dörflichen Strukturen zum Teil gemeinschaftlichen Charakter.

Verpflegung auf dem Wyhler Bauplatz
Verbindung von Protest und Alltag: Verpflegung auf dem Wyhler Bauplatz.

«Du kannst eine Mutter nicht aufhalten, wenn es um die Gesundheit der Kinder geht!», schrieb die 2021 verstorbene Friedel Bieselin vor einigen Jahren über die damaligen Proteste. Viele Frauen begründeten ihr Engagement mit dem «Schutz des Lebens», dem sie sich als Frauen und Mütter besonders verpflichtet glaubten.

«Frauen schlagen Alarm»: So war im Herbst 1974 auf Bannern und Flugblättern zu lesen. Sie kritisierten ein Gesellschaftsmodell, das Mensch und Umwelt für Profite opfere. «Wir Frauen verstehen unter Fortschritt etwas anderes!» Oder: «Was wir brauchen, sind gesunde Arbeitsplätze und eine Umwelt, in der unsere Kinder gesund aufwachsen können.»

Sind das Vorläuferinnen einer feministischen «Revolution für das Leben», von der die Philosophin Eva von Redecker spricht? Ganz so einfach ist es nicht. Denn zwischen dem ökologischen Kampf und feministischen Forderungen nach Selbstbestimmung stellten die Aktivistinnen nicht immer einen Zusammenhang her.

Die Musikwissenschaftlerin und Feministin Freia Hoffmann engagierte sich früh gegen Atom und Blei. In Freiburg kämpfte sie gleichzeitig für die Abschaffung des Paragrafen 218 im deutschen Strafgesetzbuch, der Abtreibungen verbietet. Unter den meisten Kaiserstühler Frauen war das aber kein Thema, wie sie sich erinnert: «Es gab dann nur mal zwischendurch so Unterhaltungen, auch mit jungen Frauen aus Endingen. Und als wir dann vom Paragrafen 218 erzählt haben, da sagten sie ganz erstaunt: ‹Was, dagegen seid ihr auch?› Im Sinne von: ‹Wie anstrengend!›»

Feminismus und Ökologie verknüpfen

Die Kämpfe liessen sich also nicht so einfach verbinden. Doch das war sowieso nicht Hoffmanns Ziel, als sie sich am Kaiserstuhl engagierte. Sie kam aus einer Strömung der Neuen Linken, die sich gegenüber den sozialen Bewegungen öffnete und von ihnen lernen wollte. Am Kaiserstuhl wollte sie nicht für den Feminismus missionieren. Sie grenzte sich von dogmatischen Linken ab, die in den Bewegungen nur neue Mitglieder für ihre Parteiprojekte zu rekrutieren suchten.

«Wir wollten nicht unsere politischen Erfahrungen irgendjemandem diktieren. Und das wäre auch völlig falsch gewesen, das hätten sie nicht verstanden», erzählt sie. Mit ihren feministischen Freundinnen Christiane Walesch, Sylvia Gebhardt und Ursula Röcken rief sie auf dem besetzten Bauplatz von Marckolsheim zur Gründung einer Frauengruppe auf.

Der Aufruf war erstaunlich erfolgreich. Bis Ende 1974 trafen sich die Frauen immer wieder in den Gasthäusern der Region, tauschten sich aus, schrieben offene Briefe und Flugblätter oder organisierten Informationsveranstaltungen. Sie nannten sich «Badische Fraueninitiative». Den männlichen Leadern der Bürger:inneninitiativen gefiel das nicht immer. Doch den drei Freiburgerinnen gelang es mit ihren Vermittlungsbemühungen, dass die Aktionen der Badischen Fraueninitiative geduldet wurden.

Diese sprachen sich herum. In der Gewaltfreien Aktion Kaiseraugst fassten Frauen den Entschluss, es ihren Freundinnen auch rheinaufwärts gleichzutun. Einige Monate bevor es im April 1975 auch in der Nähe von Basel zur Besetzung kam, schrieben sie deshalb den Freiburger Feministinnen einen Brief. «Wir möchten gerne eine Frauenbewegung ins Leben rufen und haben gehört, dass Freiburg und Wyhl eine Frauenbewegung geschaffen haben, die innerhalb einer Woche tausend Mitglieder hatte. Habt ihr das gemacht? – Und wie?»

Nicht nur Schweizer Atomkraftgegnerinnen stellten sich diese Frage. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gab es in der gesamten deutschen Bundesrepublik Frauengruppen, die Feminismus und Ökologie verknüpfen wollten. Ohne den Begriff zu benutzen, entwickelten sie eine ökofeministische Theorie und Praxis. Die «Frauen von Wyhl» waren für sie eine wichtige Referenz. Um sie entstand nach und nach ein ökofeministischer Mythos.

Dabei wendeten sich die Freiburgerinnen schon früh gegen eine solche Idealisierung. Was sie angestossen hätten, sei keine «Frauenbewegung im üblichen Sinn» gewesen, antworteten sie den Frauen aus Kaiseraugst. Natürlich seien viele Frauen durch diesen Aktivismus selbstbewusster geworden. Doch habe die Badische Fraueninitiative nicht direkt gegen patriarchale Unterdrückung gekämpft. Im Fokus habe der Widerstand gegen die Atomkraft gestanden, wo alle – auch Männer – ihren Platz gehabt hätten. Statt die Männerherrschaft offen herauszufordern, wollte die Badische Fraueninitiative die Bewegung mit frauenspezifischen Aktionen ergänzen.

Frauen schreiben Geschichte

Nicht nur die Badische Fraueninitiative – das gesamte weibliche Engagement gegen Blei und Atom lässt sich schwer kategorisieren. War das jetzt progressiv oder traditionalistisch, links oder rechts, feministisch oder konservativer Mutterkult?

Die Versuchung ist gross, die Vielfalt und die Widersprüchlichkeit zu glätten, die diese Bewegung ausmachten. So ist etwa beim Historiker Jens Ivo Engels der Satz zu lesen: «Nach dem Konflikt um Wyhl kehrten die meisten Frauen nach Hause zurück und spielten weiterhin ihre traditionelle Rolle als Hausfrauen.» Alles sei also beim Alten geblieben. Die Bewegung sei den Frauen gewissermassen äusserlich geblieben: Sie schlossen sich ihr an, ohne dass sie das als Personen verändert hätte. Nach der Bewegung hätten sie genauso häuslich, religiös, traditionell und bäuerlich weitergelebt wie zuvor.

Nicht alle sind mit dieser Interpretation einverstanden.

Um zu zeigen, dass sich bei den Frauen sehr wohl einiges bewegt hat, kamen im Herbst 2012 Aktivist:innen zusammen, um ihre Erfahrungen auszutauschen. «An diesem Abend erzählten die Frauen anschaulich, wie vielfältig, neu, phantasievoll, freudig entschlossen, auch anstrengend, konfliktreich, schmerzlich der Widerstand war – doch gemeinsam überschritten sie so manche Grenze», schrieben sie anschliessend in einem Flugblatt. Die Frauen müssten die Geschichte selbst schreiben, meinten sie. Deshalb riefen sie für April 2013 zu einem weiteren Treffen auf.

Eine Videoaufnahme des Treffens zeigt die 2021 verstorbene Schweizer Anti-Atomkraft-Aktivistin Aki Dieterle, wie sie eine alte Notiz vorliest. Sie engagierte sich in der Bewegung gegen das AKW Wyhl und schrieb damals: «Eine neue Form braucht neue Ideen. Das ist die neue Sprengkraft von Wyhl. Dass es ihnen auf langem Wege gelungen ist, aus Parteimarionetten mündige Menschen werden zu lassen. Das ist das Gefährlichste, was es überhaupt gibt.» Unmittelbar danach breche die Notiz ab: «Mein Mann hat darunter geschrieben: Brot, Knoblauchzehen, Öl, Essig, Zwiebeln, Geschirrtücher.»

Selbst in sozialen Bewegungen, die Menschen verändern und ihren Horizont erweitern, verschwindet die Last des Alltags nicht einfach. Besonders das Leben von Frauen wird beständig von den Zwängen des Haushalts, der Kindererziehung oder des Hofes durchkreuzt. Wer auch immer in ihrem Haushalt Brot, Knoblauch, Öl, Essig, Zwiebeln und Geschirrtücher einkaufen ging: Irgendetwas hatte Aki Dieterle davon abgehalten, mehr über die von den Wyhl-Protesten entfesselten Energien zu schreiben, die sie in ihrer Person und ihrem Handeln erfassten.

Auch von solchen Fragmenten muss erzählt werden. Denn sie bezeugen, dass die Frauen in ihrem Widerstand gegen Atom und Blei Geschichte geschrieben haben. Auf je individuelle Weise haben sie ihr Schicksal in ihre eigenen Hände genommen – und dabei so manche Grenze überschritten.