Durch den Monat mit Pierre-Yves Walder (Teil 3): Brauchen Horrorfilme eine Triggerwarnung?

Nr. 29 –

Der künstlerische Leiter des Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF) glaubt: Konfrontation gehört zur Kunst dazu. Und er verrät, was ihn persönlich während des Festivals zumindest ein bisschen schockiert hat.

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Portraitfoto von Pierre-Yves Walder
«Leute werden von allen möglichen Dingen getriggert. Aber wenn ein Film wirklich heftig ist, schreiben wir das auch hin»: Pierre-Yves Walder.

WOZ: Pierre-Yves Walder, wie erholen Sie sich nach dem Festivalstress?

Pierre-Yves Walder: Pierre-Yves Walder: Ich fahre bald in die Ferien. Und ich treffe Freunde und Freundinnen. Zuerst bin ich gerne noch ein wenig alleine – und schaue Filme.

WOZ: Erst mal noch mehr Filme?

Pierre-Yves Walder: Ja, aber für eine Weile nur solche, die nichts mit dem NIFFF zu tun haben: Dramen oder Dokumentarfilme. Bestimmt auch den einen oder anderen Horrorfilm, aber nur solche der einfacheren Art.

WOZ: Weil es sich sonst gleich wieder wie Arbeit anfühlen würde?

Pierre-Yves Walder: Es sollte so weit weg vom NIFFF sein wie möglich. Wenn Horrorfilme oder Thriller, dann solche der unmittelbaren Art: «premier degré». Kein intellektueller «elevated horror», sondern einfache Kost. Solche Filme zeigen wir am NIFFF auch, aber die sind einfach oft nicht besonders gut. Ich schaue sie zwar gern, aber im Programm verzichte ich lieber darauf. Man muss Berufliches und Privates auseinanderhalten.

WOZ: Dann noch mal zum Beruflichen: Wie geht es Ihnen während des Festivals?

Pierre-Yves Walder: Sehr gut – weil so viele Menschen in den Sälen sind, die mir positive Rückmeldungen zu den Filmen geben. Und weil die neue Open-Air-Location mit 800 Plätzen so gut funktioniert, oft sogar ausverkauft ist. Das ist der Wahnsinn! Wenn man da dann steht und einen Film präsentiert, gibt einem das enorm viel Energie. So wie auch der Austausch mit den Gästen, all die tollen Gespräche.

WOZ: Welche persönlichen Überraschungen haben Sie während des Festivals erlebt?

Pierre-Yves Walder: Wir konnten ja «After Darkness» zeigen, zu seinem 40. Jubiläum. Der war während all der Jahre kaum irgendwo zu sehen – ein «unsichtbarer» Film. Darin spielen Stars wie John Hurt, Julian Sands und Victoria Abril mit, aber der Regisseur Dominique Othenin-Girard stammt aus Le Locle, und der Film wurde auch hier gedreht. Er war mir ein Begriff, seit ich in meiner Jugend von diesem Neuenburger Regisseur gehört hatte, der nach Hollywood gegangen war. Man konnte also aus Neuchâtel – ja sogar aus Le Locle – kommen und so etwas schaffen. Es war wie ein Traum.

WOZ: Wie war die Vorführung?

Pierre-Yves Walder: Da der Regisseur anwesend war, wartete ich etwa fünfzehn Minuten vor Filmende an der Seite des Saals darauf, um mit ihm anschliessend das Filmgespräch zu führen. Da stand eine Frau aus dem Publikum auf, kam zu mir und meinte: «Solche Filme sollte man nicht zeigen.» Und dann ist sie einfach gegangen.

WOZ: Wissen Sie, weshalb?

Pierre-Yves Walder: Ich weiss nicht, ob sie sich langweilte oder ob sie schockiert war: Der Film thematisiert durchaus psychologisch heftige Beziehungen zwischen den Figuren. Doch eine solche Reaktion hätte ich bei anderen Filmen, aber sicher nicht bei diesem erwartet. Und dass sie einfach so ohne ein weiteres Wort den Saal verliess: Das war ein kleiner Schock für mich, wenn auch ein sanfter.

WOZ: Wenn Leute vorzeitig einen Film verlassen, beschäftigt Sie das?

Pierre-Yves Walder: Ja, ich frage mich dann, was ich falsch gemacht habe, ob mich mein Gespür für Filme verlassen hat. Vor allem, wenn es einer ist, der mir am Herzen liegt, dann macht mich das ein bisschen traurig. Aber hinterher sagt man sich, dass das normal und Geschmack eben etwas Individuelles ist.

WOZ: Es muss ja nicht immer Kritik am Film sein. Man weiss ja nie, was die Leute alles mit sich herumtragen.

Pierre-Yves Walder: Da sind wir beim Thema Triggerwarnung. Das beschäftigt uns seit langem. Vergangenes Jahr haben wir es auch versucht. Aber wir mussten einsehen, dass das bei einem Festival wie unserem einfach unmöglich ist.

WOZ: Jetzt machen Sie es umgekehrt und drucken im Programmheft eine relativ kurze Liste mit Filmen ab, die keine potenziellen Trigger und sonstige schockierende Momente enthalten.

Pierre-Yves Walder: Aber auch dieses System funktioniert nur bedingt. Leute werden von allen möglichen Dingen getriggert. Gleichzeitig finde ich schon, dass wir eine Verantwortung haben, die wir wahrnehmen müssen. Wenn ein Film wirklich heftig ist, schreiben wir das auch hin. Doch als wir 2024 ein allgemeines System einführen wollten und unser Programm durchgingen, hiess es da immer wieder: sexuelle Aggression, Gewalt gegen Tiere, Gewalt gegen Kinder, Monster, Gespenster, Body Horror, Blut …

WOZ: Der Teil mit den Triggerwarnungen war dann länger…

Pierre-Yves Walder: … als der Filmbeschrieb. Also haben wir uns gesagt: Leute, die ans NIFFF kommen, wissen, dass die Filme hier konfrontativer Natur sind. Und das gehört ja zum Kino und auch zum künstlerischen Schaffen an sich dazu. Es kann nicht alles immer clean und unaufdringlich sein. Für mich am wichtigsten ist die Aufrichtigkeit. Selbst wenn ein Film ansonsten ein wenig misslungen ist: Wenn er aufrichtig ist, bin ich ihm automatisch wohlgesinnt.

Am stärksten «triggern» Pierre-Yves Walder (49) dokumentarische Aufnahmen aus Schlachthöfen. Gerne wäre er bei der Weltpremiere von «Some Like It Hot» (1959) dabei gewesen.