Filmfestival: Die Frage ist: Wer frisst hier wen?

Nr. 27 –

Am Neuchâtel International Fantastic Film Festival werden die Eliten auf den Grill gelegt. Unter dem Titel «Eat the Rich» spürt eine grosse Filmreihe den Bildwelten von Klassenkampf und Revolte nach.

Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf, die Reichen konnten selbst während der Coronakrise ihre Gewinne steigern. Doch statt der Linken profitiert – die letzten Europawahlen haben es gezeigt – die extreme Rechte. Was kann das Kino über den Klassenkampf erzählen? «Eat the Rich» heisst die Devise der thematischen Retrospektive am Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF). Wobei gar nicht so eindeutig ist, wer in diesen Filmen wen frisst: In George A. Romeros «Land of the Dead» (2005) entdecken die Untoten ein Klassenbewusstsein, während Bong Joon-ho in seiner Eiszeitdystopie «Snowpiercer» (2013) die Fortschrittsidee entgleisen lässt, und im Bodyhorrorklassiker «Society» von Brian Yuzna (1989) nährt sich der Gesellschaftskörper auf explizit-vulgäre Weise an seiner untersten Schicht.

Vom Slogan zum Film

Esst die Reichen! – Im Schlachtruf der antikapitalistischen Linken äussert sich die Wut über die Besitzverhältnisse. Die Bedeutungsgeschichte der Parole reicht zurück bis zur Französischen Revolution. Landläufig wird sie Jean-Jacques Rousseau, dem Vordenker der Aufklärung, zugeschrieben. Ihn soll Pierre-Gaspard Chaumette, Präsident der Pariser Kommune und Verteidiger des Terrors unter Robespierre, am 14. Oktober 1793 auf den Barrikaden von Paris zitiert haben: «Wenn das Volk nichts mehr zu essen hat, wird es die Reichen fressen.» Sofort kommt einem da Marie Antoinette mit ihrem nicht verbürgten ideologischen Bonmot von den hungernden Armen in den Sinn: Diese sollen, wenn es kein Brot gibt, doch einfach Kuchen essen.

Fantastische Filme

21 Filme aus fast hundert Jahren umfasst die «Eat the Rich»-Reihe am NIFFF, vom sowjetischen Frühwerk «Aelita» (1924) von Jakow Protasanow bis zum südafrikanischen Geisterfilm «Good Madam» (2021) von Jenna Cato Bass. Daneben wartet das Festival mit zahlreichen Schweizer Premieren auf, darunter Jane Schoenbruns Nostalgietrip «I Saw the TV Glow» und der indische Actionkracher «Kill» von Nikhil Bhat. Als Ehrengast wird die italienische Genreikone Asia Argento erwartet.

Neuchâtel International Fantastic Film Festival: 5.–13. Juli 2024, genaues Programm siehe www.nifff.ch.

 

Im Raum des Politischen entfaltet sich zwischen diesen Polen die revolutionäre Energie der Parole «Nix mit Kuchen, her mit dem Kapital!». Das ist griffig, offenbart beim unmittelbaren Bezug auf das Kino jedoch einige Schwierigkeiten, weil eine solch eindeutige Rahmung die Komplexitäten von Filmen wie Brian Yuznas «Society» einzuebnen droht. Parolen sind zwangsläufig vereinfachend; das liegt in ihrer Funktion begründet. Ihr Ziel ist die politische Mobilisierung, die Erzeugung und Vereinigung politischer Subjekte, nicht die komplexe Gesellschaftsanalyse. Das Kino allerdings montiert Bilder, formt bewegliche Narrative und denkt eher in Relationen. Es zeichnet Verwicklungen nach, lässt seine Geschichten wuchern und in einem offenen Raum atmen. Es liegt dann an uns, über den Sinn zu diskutieren und den politischen Moment zu eröffnen. Bis heute lässt sich beispielsweise vortrefflich über Luis Buñuels surrealistischen Klassiker «El ángel exterminador» (1962) streiten. Allein was der titelgebende Würgeengel zu bedeuten hat – ein ewiges Rätsel.

Der Laden läuft weiter

Im Grunde variiert der Film ein Motiv, dem Jean-Paul Sartre bereits in seinem Theaterstück «Huis clos» von 1944 eine verstörende Form gegeben hat: Menschen sind aus unerfindlichen Gründen nicht in der Lage, einen Raum zu verlassen, und müssen sich daher mit sich selbst und mit den Dynamiken von Macht, Begehren und sozialen Rollen auseinandersetzen. Bei Buñuel findet sich eine ganze Abendgesellschaft in feinster Gefangenschaft. Nach den Vorbereitungen für die Zusammenkunft quittieren die Bediensteten ihren Dienst. Sie verlassen das Haus, worauf die gehobene Gesellschaft offenbar nicht mehr zu funktionieren weiss und buchstäblich zu einer geschlossenen wird.

Auf der ersten Ebene kommt es zum erwartbaren Exzess. Nichts, was man nicht schon kennt. Das Besondere an diesem Versuchsaufbau liegt allerdings nicht in dieser Entlarvung der Elite, sondern in den Schaulustigen vor dem Haus, die durch die Fenster blicken. Als würde Buñuel damit auch den Blick des Kinopublikums inszenieren und zu uns sagen: Schaut, vor euren Augen halte ich, der Regisseur, die Fäden in der Hand. Ich zeige euch, wie verkommen die Elite ist. Und doch schaut auch ihr nur zu – es ändert nichts, da kann sich die Oberschicht noch so räudig geben.

Auch bei Sartre ist es der Blick der anderen, der uns in die sozialen Rollen zwingt. «Die Hölle, das sind die anderen» heisst es am Ende von «Huis clos». Man kann dies auch als das thematische Herz von «El ángel exterminador» begreifen: Diese Hölle, die all die anderen und damit auch wir sind, hält den Laden am Laufen. Die Bourgeoisie mag im Exzess untergehen, die gesellschaftlichen Strukturen aber bleiben bestehen. Wir verkörpern die Normen. Auch ausserhalb der Villa finden sich im Film nur weitere Einschliessungen, nämlich dann, wenn die Gemeinde die Kirche nicht verlassen kann. Der Kapitalismus ist ein Spiegellabyrinth aus Blicken. Die Reichen auf den Grill zu legen, reicht nicht – die Armen sind Teil der Ordnung. Wir befinden uns in einem Würgegriff.

Der Zug des Fortschritts

Auch in anderen Filmen findet sich dieses Weiterleben der Strukturen. Der obszöne Körperhorror von «Society» radikalisiert den Exzess in unersättlichen Fleischbergen. Ein reicher Geheimbund verschlingt hier seine Opfer wie in einer Sexorgie: Körper laufen ineinander, wuchern wie Geschwüre. Doch ist es das Begehren der zukünftigen Opfer, Teil der High Society zu werden, das zu dieser gewaltvollen Vereinigung führt. Solange es dieses Streben nach Aufstieg und Erfolg gibt, besteht kaum Hoffnung.

Oder «Snowpiercer» von Bong Joon-ho: Ein Zug rast durch eine Eiswüste, die Welt ist erstarrt, die wenigen Überlebenden haben sich in die ewige Bewegung geflüchtet. Solange die Waggons in Bewegung sind, wird niemand erfrieren. Allein dieses Bild des rasenden Stillstands ist grandios. Klammert sich nicht auch der Kapitalismus an die Idee des Wachstums, weil nur dieser sein Funktionieren garantiert, während der Klimawandel die Welt um uns herum auslöschen wird? Es gilt die ewig bemühte Einsicht von Fredric Jameson: Die Menschen können sich eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen. «Snowpiercer» ist der Film dazu.

Im Zug hat sich eine Klassengesellschaft reinstalliert, zuhinterst darbt das Proletariat. Als die unterdrückten Massen feststellen, dass die Wachen keine scharfe Munition in ihren Waffen haben, wagen sie den Aufstand: Sie wollen den Führerstand einnehmen. Je weiter der Umsturz voranschreitet, desto klarer ist, dass das Gesellschaftssystem diesen Umsturz bereits eingeplant hat: Es bedarf der revolutionären Energie, um die Bewegung selbst in Bewegung zu halten.

Die Reichen auf den Grill legen: Dieser wütende Gedanke ist selbst Teil der Ordnung. Die Filme am NIFFF sind eine willkommene Einladung, sich in all diese Widersprüche zu stürzen. Die Reichen essen. Die Armen aber auch.