Durch den Monat mit Pierre-Yves Walder (Teil 1): Worin liegt der Reiz des Genrekinos?
Am 4. Juli startet in Neuchâtel die 24. Ausgabe des International Fantastic Film Festival. Für Pierre-Yves Walder, der ein Faible für Haie hat, ist es das vierte Jahr als künstlerischer Leiter.

WOZ: Pierre-Yves Walder, im Programm des Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF) finden sich auch viele Horrorfilme. Vor welchem Szenario, das sich auf dem Festival ereignen könnte, haben Sie Angst?
Pierre-Yves Walder: Pierre-Yves Walder: Dass sich die Leute nicht für die Filme interessieren. Oder dass es keine Reaktionen gibt. Das NIFFF-Publikum ist eine Art Gemeinschaft und sehr treu. Klar gefallen nicht alle Filme allen, und klar gibt es Filme, die wir zeigen, weil sie uns selbst besonders am Herzen liegen. Aber am Ende machen wir das Programm für unser Publikum, und da ist es schon das Wichtigste, dass es einer Mehrheit gefällt.
WOZ: Keine Albträume, dass Godzilla aus dem Neuenburgersee auftaucht?
Pierre-Yves Walder: Und dabei einen Tsunami auslöst, der dann während des Festivals ganz Neuchâtel verschlingt, genau.
WOZ: Wasser scheint einen besonderen Stellenwert für Sie zu haben. Bei zwei Filmen aus dem Programm stehen Haie im Zentrum.
Pierre-Yves Walder: Ich liebe das Wasser und darin zu schwimmen – schliesslich bin ich hier aufgewachsen. Als ich in Paris lebte, merkte ich, wie sehr es mir fehlte. Zu den Haien: Wie viele andere war ich viel zu jung, als ich «Jaws» («Der weisse Hai») von Steven Spielberg zum ersten Mal sah. Das hat mich wohl positiv wie auch negativ geprägt. Ich halte stets Ausschau nach neuen Haifischfilmen, die man zeigen könnte. Vor einigen Jahren gab es ja eine ganze Welle von «Sharksploitation»-Filmen, was ich grundsätzlich toll fand – bloss dass da kaum gute Filme dabei waren. Für «Dangerous Animals» gilt das nicht: Er läuft in der Sektion «Ultra Movies» für hartgesottene Zuschauer:innen und kombiniert das Haifisch- mit dem Serienmördergenre. Der japanische Beitrag «Hotspring Sharkattack» hingegen, wo Haie eine Thermalquelle unsicher machen, gehört eher zum Genre «What the fuck?!».
WOZ: Ist der Horrorfilm für Sie ein Weg, sich mit Ängsten auseinanderzusetzen?
Pierre-Yves Walder: Angst vor Haien habe ich nicht direkt. Aber Horrorfilme sprechen unser «Reptiliengehirn» an, den Hirnstamm, wo auch die Urängste sitzen. In «Jaws» etwa geht es um die Angst davor, gefressen zu werden, und natürlich um die Angst vor dem Unbekannten, vor dem, was unter der Oberfläche liegt, das Unbewusste.
WOZ: Würde es «Jaws» überhaupt in den Wettbewerb des NIFFF schaffen? Die Filme dort enthalten in der Regel ja fantastische Elemente.
Pierre-Yves Walder: Tatsächlich gibt es bei der Filmauswahl solche Kriterien, ja. Normalerweise verstehen wir unter dem Fantastischen Dinge, die die Grenzen der konventionellen, gemeinhin akzeptierten Realität überschreiten. Aber das ist natürlich auch wieder subjektiv. Und es gibt auch noch die Programmsektion «Third Kind», wo jene Filme laufen, die diese Kriterien nicht so ganz erfüllen oder sich auf der Grenze zwischen Realität und Fantastik abspielen. Diese Grenze interessiert mich besonders wie auch die Tatsache, dass sie sich laufend verschiebt.
WOZ: Weil die Regeln nicht mehr so streng ausgelegt werden?
Pierre-Yves Walder: Braucht es überhaupt immer Regeln?
WOZ: Das Genrekino ist ja schon relativ regelbasiert.
Pierre-Yves Walder: Vielleicht, aber auch da sind die Grenzen durchlässig. Das fantastische Kino ist gerade dabei, sich aus seinen engen Räumen zu befreien. Viele sogenannte seriöse Filmemacher:innen haben in letzter Zeit damit begonnen, sich der Codes des fantastischen Kinos zu bedienen. Ohne werten zu wollen, finde ich das erst mal interessant zu beobachten. Gerade auch für unsere Programmarbeit.
WOZ: Das Genrekino hat nicht den allerbesten Ruf.
Pierre-Yves Walder: Der Begriff «Genrefilm» war für lange Zeit oft abwertend gemeint, auch wenn ich selber das nie so empfand. Zwar ist es nicht unser Ziel, dem fantastischen Film Respektabilität zu verleihen. Aber ich konnte doch beobachten, dass es populärer oder, sagen wir, cooler geworden ist. Populär war es ja schon immer, wenn man etwa an die grossen Klassiker «The Exorcist» oder «Rosemary’s Baby» denkt.
WOZ: Hängt dieser Trend damit zusammen, dass die Realität immer unverständlicher wird?
Pierre-Yves Walder: Und das fantastische Kino wäre dann der Versuch, diese Realität zu dechiffrieren? Stimmt, das könnte sein. Aber ich glaube, es ist eine Frage der Generationen und ihrer Referenzen. Mit Filmen auf VHS und DVD aufzuwachsen, führte zu einer ganz anderen Art der Cinephilie, als sie noch bei der Generation herrschte, für die das B-Movies waren, samt negativer Wertung. Ich finde das interessant, selbst wenn mir solche Unterteilungen nicht besonders nützlich erscheinen. Neuerdings höre ich manchmal, das NIFFF sei ein bisschen «intello» geworden mit den ganzen Retrospektiven, Diskussionen. Zum ersten Mal in meinem Leben gelte ich als «intellektuell» (lacht).
WOZ: Virginia Woolf sprach sich in einem Essay für die intellektuelle «Highbrow»- und auch die populäre «Lowbrow»-Kultur aus. Von Werken, die nur der Zierde gutbürgerlicher Bücherregale dienten, distanzierte sie sich: Wer es wage, sie als «middlebrow» zu bezeichnen, den werde sie mit ihrem Schreibstift erstechen.
Pierre-Yves Walder: Den muss ich unbedingt lesen!
Ehe er zum NIFFF stiess, arbeitete Pierre-Yves Walder (49) in Paris und in der Schweiz im Bereich Kommunikation, unter anderem für verschiedene Filmfestivals. www.nifff.ch