Blatten: Die grosse Angst in den Bergen
Ein halbes Jahr nach dem Bergsturz von Blatten treibt die Gemeinde den Wiederaufbau voran. Das immer extremere Klima bedroht auch andere Walliser Täler. Wie geht man im Kanton damit um?
Auf dem Foto sieht man Schnee. Schnee in der Nacht, teils beleuchtet. Spuren. «Das ist die Langlaufloipe hinter meinem Haus – gewesen», sagt Rita Kalbermatten. «Ich hatte nicht den Anspruch, ein Foto mit Bedeutung zu machen. Aber jetzt hat es eine.» Das Haus steht heute im See hinter dem Schuttkegel von Blatten.
Kalbermatten, die zusammen mit Thomas Antonietti das Lötschentaler Museum in Kippel kuratiert, hat zwei eigene Bilder zur aktuellen Sonderausstellung «Foto-Paradies Lötschental» beigetragen. Konzipiert wurde diese letzten Winter. Doch nun, nach dem Bergsturz vom 28. Mai, ist alles anders. Und viele Fotos sind mit neuen Bedeutungen aufgeladen. «Hier, auf dem Foto von Marco Volken, ist das Kleine Nesthorn noch intakt. Und hier, diese Frau trägt die Tracht, die meiner Tochter gehörte und auch weg ist.» Fast prophetisch wirkt Pascal Seilers Foto vom Bietschhorn, dem ein Stück fehlt. Das Kleine Nesthorn, von dem ein Teil am 28. Mai auf den Birchgletscher stürzte und damit den Bergsturz auslöste, ist ein Vorgipfel des Bietschhorns.
«Es ist zu viel»
Auf vielen älteren Bildern sieht man Häuser und Kulturlandschaften, die der Bergsturz zerstört hat. So hat ein Lehrer aus dem Kanton Zürich in den Sechzigern dokumentiert, wie in Blatten das Gepäck der Feriengäste auf Maultiere umgeladen wurde, weil es noch keine Strasse bis zur Fafleralp gab. «Das habe ich als Kind noch erlebt», sagt Kalbermatten.
Vor dem Rundgang sitzen wir im kleinen Büro des Museums. Die Traurigkeit lastet spürbar im Raum. «Blatten war das Paradies für mich», sagt Kalbermatten. Jetzt ist sie vorübergehend in einer Ferienwohnung hier in Kippel untergekommen. «Man ist gut aufgehoben, die Leute sind grosszügig», sagt sie. «Aber es ist nicht das Gleiche wie daheim.» Mehr mag sie nicht vom Bergsturz erzählen, auch die Wiederaufbaupläne nicht kommentieren. «Es ist zu viel.»
Zusammen mit Thomas Antonietti bereitet Kalbermatten die nächste Sonderausstellung vor: «Das verlorene Objekt» wird Gegenstände aus Blatten dokumentieren, die nach dem Bergsturz gefunden wurden. Glocken, Uniformen der Musikgesellschaft, auch Lötschentaler Masken sind schon aufgetaucht. «Wir wollen die Gegenstände so konservieren, dass Spuren des Ereignisses sichtbar bleiben», sagt Antonietti. Dazu kämen Fotos und Videointerviews. «Als Talmuseum ist es unsere Aufgabe, möglichst viel zu dokumentieren, auch schwierige Situationen.»
«Jährlich solche Stürze»
Das frisch verschneite Bietschhorn, 3934 Meter über Meer, wirkt unwirklich. Wie ein perfekter Gipfel, von KI gezeichnet. Wie ein heiliger Berg im Himalaja. Permafrost hielt in den letzten Jahrtausenden das Gestein auf dieser Höhe zusammen. Das Eis im Untergrund wirkte wie Leim. Doch die Schweiz hat sich seit Ende des 19. Jahrhunderts schon viel stärker erwärmt als im globalen Mittel: um 2,9 Grad. Die Nullgradgrenze steigt, der Permafrost schmilzt. Die Hänge werden instabil.
«Es ist unbestritten, dass der Klimawandel in Blatten eine Rolle gespielt hat», sagt Christian Huggel, Professor am Geographischen Institut der Universität Zürich. «Auch wenn man den Anteil des Klimas nicht in Prozenten quantifizieren kann.» In den Alpen höre er oft: «Wir haben immer mit Naturgefahren gelebt.» Dieses historische Wissen sei wichtig und wertvoll – aber die Berge hätten sich verändert: «Heute sind Orte gefährdet, die es früher nicht waren.»
Schon vier Tage nach der Katastrophe von Blatten wies der Glaziologe Wilfried Haeberli in einem Blog darauf hin, dass sich erst im April 2024 ein vergleichbarer Bergsturz im Engadiner Val Roseg ereignet hatte – nur wurde er kaum wahrgenommen, weil er auf unbewohntes Gebiet niederging. «Wenn das so weitergeht, werden sich in absehbarer Zeit jährlich solche Stürze ereignen», sagte Haeberli gegenüber der WOZ (siehe Nr. 23/25).
Weissenried hat Glück gehabt. Die Bergsturzmasse aus Geröll, Eis und Wasser prallte auf den Talboden, brandete den Gegenhang hoch und kam wenige Meter unterhalb des Weilers zum Stillstand. Verlassen, aber intakt stehen die dunkelbraun gebrannten Holzhäuser in der Novembersonne. Die Fassaden der untersten sind mit einer dünnen, hellen Dreckschicht bedeckt: Spuren der gewaltigen Staubwolke, die man auf den Videos vom 28. Mai sieht. Direkt unter Weissenried beginnt der Schuttkegel, der immer noch einen leuchtend blauen See staut. Hausdächer ragen heraus. Bagger fahren in der Steinwüste herum, bearbeiten die Geröllmassen. Sie wirken wie Kinderspielzeug in einem Riesensandkasten.
Seit sechzig Jahren unterstützt die grosse, mit der Stadt Bern zusammengewachsene Gemeinde Köniz das Lötschentaler Bergdorf – finanziell, aber auch mit Arbeitseinsätzen von Zivilschützern und Schulklassen. Anfang November feiert Köniz im örtlichen Schloss diese Partnerschaft. Der Saal ist voll. Alle, die in diesem Land noch fernsehen, kennen inzwischen das Gesicht des Blattener Gemeindepräsidenten Matthias Bellwald. Dem ehemaligen Berufsmilitär ist es nach dem Bergsturz vom ersten Tag an gelungen, eine «Wir schaffen das»-Atmosphäre zu verbreiten. Es gelingt ihm auch in Köniz. Ganz bewusst habe er schon zwei Wochen nach der Katastrophe «in den Schock eine Vision gepflanzt»: Blatten werde wiederaufgebaut. Schon 2026 sollen die Bewohner:innen der unbeschädigten Häuser zurückkehren, bis 2029 sollen für die anderen neue Häuser stehen.
Bellwald präsentiert Fotos der Notstrasse, der reparierten Kleinkraftwerke, der Aufräumarbeiten. Und die Folie, die er dieser Tage oft zeigt: «Ein Lötschental ohne Blatten oder ein Blatten ohne Lötschental ist keine Option.» Bellwald betont: «Keine Massnahme auf der Welt kann einen Orkan, einen Tsunami, einen Bergsturz, ein Jahrtausendereignis verhindern.»
Dann spricht der Lötschentaler Mitte-Ständerat Beat Rieder. Ein historisches Ereignis brauche historische Leistungen, um überwunden zu werden, sagt er. Man müsse sich «am Riemen reissen». Blatten könne die Katastrophe nicht allein bewältigen, es brauche Bund und Kanton – aber die Gemeinde müsse eine möglichst grosse Entscheidungskompetenz erhalten. Menschen, die nahe dran seien, wüssten am besten, wie das gehe. Dann schimpft er über die Medienberichte, die den Umgang mit den vielen Spenden für Blatten kritisch beleuchteten.
Der Abend geht weiter mit einem kurzen Film über die Könizer Einsätze in Blatten, mit Musik und Apéro. In der wohlwollenden Stimmung geht unter, was Rieder da eigentlich gesagt hat: Gebt uns Geld, aber redet uns nicht drein. Zu diskutieren gäbe auch ein Satz von Gemeindepräsident Bellwald: «Wir lassen uns nicht durch klimapolitische Diskussionen entzweien.»
Einen Tag nach der Feier stellt der Kanton Wallis die neue Gefahrenkarte von Blatten vor. Teile des Dorfes und die Weiler Eisten, Gassun und Weissenried werden als sicher genug für den Wiederaufbau eingestuft.
Die Polizeiklausel
«Ich war im Lötschental auf fast jedem Gipfel», sagt die Biologin Brigitte Wolf. «Der Bergsturz ging auch mir sehr nahe.» Wolf stammt aus Graubünden, lebt aber schon seit dreissig Jahren im Oberwallis und ist Kopräsidentin der Walliser Grünen. Von 2021 bis 2025 sass sie im Kantonsparlament. Kurz nach dem Bergsturz nahm sie an einer Fernsehdiskussion teil, live aus einem Restaurant im Lötschental. «Das war eine der schwierigsten Diskussionen meines Lebens.» Sie habe versucht, sorgfältig und empathisch über den Bergsturz zu sprechen. «Aber warum empfindet es die betroffene Bevölkerung als eine solche Bedrohung, wenn man sagt, er habe mit dem Klimawandel zu tun? Es sagt ja niemand, das Lötschental sei schuld daran.» Auch sei während der Sendung dauernd das Wort «Jahrtausendereignis» gefallen. «Ich versuchte klarzumachen, dass solche Ereignisse in Zukunft leider häufiger vorkommen werden.»
Wiederaufbauprozesse nach solchen Katastrophen sollten möglichst partizipativ gestaltet werden, sagt Geografieprofessor Christian Huggel. Das zeige die Erfahrung in verschiedenen Gebirgen der Welt. Brigitte Wolf sagt, sie verstehe den Wunsch, Blatten wiederaufzubauen. «Das muss sorgfältig geschehen, gemeinsam mit der Bevölkerung und respektvoll im Umgang mit dem noch vorhandenen Boden.» Sie höre durchaus auch Zweifel an Matthias Bellwalds ambitionierten Wiederaufbauplänen. «Aber man äussert sie nicht öffentlich.»
Noch ein Thema beschäftigt Wolf: «Der Kanton hat in den letzten eineinhalb Jahren fünfmal Notrecht angewendet. Damit werden Projekte ohne öffentliche Ausschreibung und ohne Mitspracherecht realisiert.» Die sogenannte allgemeine Polizeiklausel darf laut Kanton angewendet werden, wenn die Sicherheit von Staat, Personen und Gütern von schwerem Schaden bedroht ist. «Bei der Notstrasse in Blatten kann ich das verstehen. Aber der Staatsrat nutzt dieses Instrument auch in anderen Fällen. Mit der dritten Rhonekorrektion ging es zwanzig Jahre lang kaum vorwärts. Nach den Überschwemmungen von 2024 hat der Kanton für Massnahmen, die schon lange hätten umgesetzt werden sollen, einfach Notrecht angewendet. Ebenso beim Riedbergtunnel für die neue Autobahn, der seit zwanzig Jahren im Bau ist.» Das dürfe nicht zum Normalfall werden.
Ungleich behandelt
Seit alle auf Blatten schauen, sind die Katastrophen, mit denen das Wallis in jüngster Vergangenheit auch noch konfrontiert war, in den Hintergrund getreten: der grosse Waldbrand von Bitsch im Juli 2023, ein Jahr später die Überschwemmungen der Rhone bei Sierre, Erdrutsche und Murgänge in den Seitentälern mit einem Todesopfer und einem Verschwundenen. Und dieses Jahr liess starker Schneefall in den Walliser Schutzwäldern an Ostern so viele Bäume umstürzen, wie sonst im Kanton in einem Jahr gefällt werden.
Die Überschwemmungen im Sommer 2024 zwangen in und um Sierre 230 Menschen, vorübergehend ihre Häuser zu verlassen. «Ein Teil der Gebäude ist unbewohnbar geworden», sagt der grüne Grossrat Emmanuel Revaz, der in der Nähe von Martigny lebt. «Mehr als hundert Leute verloren alles, wie in Blatten. Aber sie wurden weit weniger gut unterstützt. In Sierre haben die Behörden das Subsidiaritätsprinzip sehr strikt angewandt: Zuerst sollten Versicherungs- und Spendengelder die Opfer unterstützen; nur wenn das nicht reichte, gab es Geld vom Staat.» Ganz anders bei den Opfern im Lötschental: Im September hat der Grosse Rat zehn Millionen Franken Direkthilfe für Blatten beschlossen, einen Teil davon als Pauschale für die Einwohner:innen.
2019, im Jahr der grossen Klimademos, fand ein Postulat der Grünen für einen kantonalen Klimaplan im Grossen Rat eine Mehrheit. Danach entwickelten Regierung und Parlament ein Klimagesetz. Die SVP ergriff das Referendum, unterstützt von der Oberwalliser Mitte, und vor einem Jahr versenkte die Stimmbevölkerung die Vorlage trotz Katastrophensommer. «Wir sind der am stärksten vom Klimawandel betroffene Kanton – und jener mit der grössten Verspätung», sagt Revaz.
Als Nächstes versuchten es die Grünen mit einem Postulat. Sie forderten eine Gesetzesgrundlage, um Massnahmen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen und zur Anpassung an Auswirkungen des Klimawandels finanzieren zu können. Doch diesen Herbst lehnte der Grosse Rat auch diese Vorlage ab – mit nur zwei Stimmen Unterschied. «Es gibt eine Art Lähmung beim Thema Klima in unserem Kanton», sagt Revaz. «Man verbindet Wunden, aber weigert sich, die Krankheit anzugehen.»
89 Gefahrenherde
Schon seit 2022 besitzt der Kanton Wallis ein 270-seitiges Grundlagendokument zu den Gefahren des auftauenden Permafrosts. Verfasst hat es das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF). Doch die Öffentlichkeit und viele Gemeindevertreter:innen erfuhren erst diesen Sommer aus der Zeitung vom Dokument. Der zuständige Staatsrat Franz Ruppen (SVP) behauptete gegenüber dem «Walliser Boten» sogar, er könne sich nicht an den Bericht erinnern – dabei hatte ihn der Kanton Wallis selbst in Auftrag gegeben.
Der Bericht identifiziert 89 Orte im Kanton, die durch den schmelzenden Permafrost unmittelbar gefährdet sind: Siedlungen, Strassen, Bahnlinien, Stauseen. Auch Blatten steht auf der Liste – und die Katastrophe ist fast genau so eingetroffen wie im Bericht skizziert. Als besonders gefährlich schätzen die Forschenden die Tête de Barme ein, einen Nebengipfel der Diablerets. Weiter ist fast jedes Walliser Seitental betroffen. Im Val d’Anniviers könnte ein Berg in den Lac de Moiry stürzen und eine Flutwelle auslösen. In Saas-Balen droht Gefahr von gleich drei Seiten. Auch Randa bei Zermatt, wo ein Bergsturz schon 1991 einen Teil des Dorfes begrub, ist weiterhin gefährdet.
Die Liste geht weiter und weiter. Und langsam wird verständlich, warum so viele im Wallis nichts vom Klima hören wollen. Denn wenn man diese Warnungen ernst nimmt: Kann man dann in diesen Tälern noch ruhig schlafen?