Service public: Am schönsten war es, die AHV auszubezahlen

Nr. 41 –

Ohne öffentlichen Verkehr, Schulen und viele andere öffentliche Dienstleistungen wäre das Leben im Berggebiet undenkbar. Das Museum im Walliser Lötschental widmet dem Service public eine Ausstellung.

Thomas Antonietti und Rita Kalbermatten vor dem Lötschentaler Museum
Gesellschaftspolitische Themen sind ihnen ein Anliegen: Thomas Antonietti und Rita Kalbermatten kuratieren das Lötschentaler Museum.

Die Verbindungen sind hervorragend. Vom Bahnhof Goppenstein, wo das Tal so eng ist, dass das Restaurant «Felsheim» heisst und direkt am Steilhang klebt, dauert es mit dem Postauto nur wenige Minuten in die Dörfer des Lötschentals. Das erste Postauto bringt am Morgen schon vor halb sechs Pendler:innen zum Bahnhof, das letzte fährt kurz vor zehn Uhr abends zurück, am Wochenende noch später. Trotzdem, wird an diesem Abend ein Einheimischer sagen, verstünden seine Kollegen in Brig nicht, wie man hier oben leben könne. In diesem Hochtal, aus dem man im Winter manchmal tagelang nicht wegkann – wegen der Lawinen. «Die haben das Gefühl, hier sei Sibirien.»

«Für die älteren Leute war die Post ein wichtiger Treffpunkt. Zum Glück gibt es die Dorfläden noch.»
Rita Kalbermatten, Kuratorin

Die vielen Lawinengalerien fallen sofort auf. Genauso wie die Barrieren, mit denen sich die Strasse sperren lässt, wenn es ganz schlimm kommt. Früher, erzählt ein ehemaliger Poststellenleiter, habe er noch selbst entscheiden müssen, wann das Postauto im Winter gefahren sei und wann es zu gefährlich gewesen sei. In den achtziger Jahren sei dann die Lawinendienstkommission entstanden und habe ihm manche schlaflose Nacht erspart. Eine neue öffentliche Institution machte ihm, der selbst Teil einer öffentlichen Institution war, das Leben etwas leichter. Der Bericht des Poststellenleiters steht auf einer Tafel im Lötschentaler Museum in Kippel. Es widmet den öffentlichen Institutionen eine Sonderausstellung. Auch ein Kraftwerkselektriker oder eine Kassierin des Autoverlads erzählen darin aus ihrem Alltag. Etwas vom Schönsten, heisst es im Bericht des Poststellenleiters, sei es immer gewesen, den Leuten die AHV auszubezahlen.

Fernsehen gabs erst 1970

«Bei den Sonderausstellungen nehmen wir uns die Freiheit, gesellschaftspolitische Themen aufzunehmen», sagt Kurator Thomas Antonietti. «Aber immer heruntergebrochen auf das Lötschental, die Gegenwart der Leute hier», ergänzt Kuratorin Rita Kalbermatten. Das Interesse am Gesellschaftspolitischen ist dem Programm anzumerken. Frühere Ausstellungen handelten etwa von Frauen im Berggebiet oder der «Stadt am Lötschberg», die nur während des Baus des Bahntunnels existierte. Sie hiessen «Masken Kunst Kommerz», «Lötschental in der Werbung» oder «Das Berggebiet – die Seele Helvetiens?».

Und jetzt also «Service public». Auch diese Ausstellung beginnt mit dem Bau des Lötschbergtunnels zwischen 1906 und 1913, als im engen Goppenstein 3000 Italiener:innen in Baracken lebten – «mit eigenem Spital, Friedhof und 35 Beizen». Wenn Antonietti davon erzählt, klingt es fast, als wäre er dabei gewesen. Seine Familie stammt allerdings nicht von den italienischen Bauarbeitern ab, sondern kam aus dem Tessin ins Wallis, wegen der Lonza.

Das erste Postauto fuhr erst 1954 nach Ferden, Kippel, Wiler und Blatten. Vorher gab es keine Fahrstrasse, Maultiere brachten Waren und Post vom Bahnhof. Man sieht sie auf Fotos, mit unglaublichen Lasten: Kisten, Säcken, Fässern, Koffern, Körben, Harassen mit Flaschen, manchmal noch einem Mann obendrauf – und zur Einweihung des Postautos hat jemand ein weinendes Maultier in ein Hotelgästebuch gezeichnet. Hat man die Tiere vermisst?

Auch das Fernsehen kam verspätet, 1970, der Popsender DRS 3 erst 1989, sechs Jahre später als im Unterland. Es ist diese Ungleichzeitigkeit, die heute fast vergessen ist. Wie sehr sich die Lebensbedingungen in diesem Land noch im 20. Jahrhundert unterschieden, das zeigt auch die Dauerausstellung: In der Zwischenkriegszeit holten die Lötschentalerinnen das Wasser noch am Dorfbrunnen, kochten in der Küche auf offenem Feuer, spannen Schafwolle, woben daraus Stoff, schneiderten und nähten ihre Kleider selber. Ihre Grossmutter, erinnert sich Rita Kalbermatten, sei nie ohne Kopftuch aus dem Haus gegangen.

Dass sich die Lebensbedingungen zwischen Berg und Tal heute angenähert haben, hat viel mit dem Service public zu tun: von den Verkehrswegen über Strom- und Internetversorgung bis zu Post und Schule. Das Bewusstsein dafür sei hier gross, sagt Rita Kalbermatten: «Drei Viertel der Berufstätigen pendeln, sie wissen, wie wichtig der ÖV ist.» Sie bedauert, dass es im Tal nur noch eine Postagentur mit eingeschränktem Service gibt. «Für die älteren Leute ist das ein Problem, für sie war die Post ein wichtiger Treffpunkt. Zum Glück gibt es die Dorfläden noch.» Auch ihr Museum sähen sie als Teil des Service public, sagen die beiden Kurator:innen. Einheimische bringen ihnen Objekte für die Sammlung, Schulklassen gestalten Ausstellungen mit, Künstlerinnen arbeiten mit den Archivbeständen. «Wir betonen immer wieder: Es ist euer Museum», sagt Antonietti.

Am Abend lädt das Museum zu einer Podiumsdiskussion über Service public im Berggebiet, und alle Stühle sind besetzt. Eindrücklich ist der Bericht von Lutgard Werlen, der einzigen Ärztin des Tals. Sie arbeitet seit siebzehn Jahren hier und ist fast pausenlos im Bereitschaftsdienst, weil das Tal für eine Gruppenpraxis zu klein ist. Im Winter mache sie nie Ferien und sei wegen der Skiunfälle auch jedes Wochenende von früh bis spät im Einsatz, erzählt sie.

Was fehlt, sind Wohnungen

Zufrieden ist Leander Jaggy, Leiter von Postauto Lötschental: «Wir sind die frequenzstärkste Linie neben Saas-Fee.» Pendler:innen und Feriengäste ergänzten sich, nur ein Direktbus bis Visp fehle leider. Auch der Primarschule gehe es gut, sagt Lehrerin Caroline Erbetta. Mit 81 Kindern ist die Schule gesichert, und das Angebot ist breit: Musikunterricht, Sportarten von Ski bis Yoga, renovierte Spielplätze. Es gibt auch eine Kita und einen Mittagstisch, beides hat Erbetta mit aufgebaut. «Aber die Jugendlichen sind etwas verloren hier. Für sie gibt es wenig.» Auch die meisten jungen Erwachsenen zögen weg: «Man bleibt heute nicht mehr, weil das Bietschhorn so schön ist. Die Jungen wollen Arbeitsplätze, Freizeitmöglichkeiten und bezahlbaren Wohnraum.» Auch Jean-Christoph Lehner, Gemeindepräsident von Blatten, betont: «Die grösste Herausforderung sind die fehlenden Mietwohnungen.»

Wie in anderen Bergtälern ist das Leben im Lötschental ohne Service public undenkbar. Dass der Markt das nicht regelt, scheint hier allen klar. Als Podiumsmoderator Thomas Egger von der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) nach Wünschen an die Politik fragt, klingt die Antwort von Lehrerin Erbetta wie eine linke Wahlkampfrede: «Fragt nicht: ‹Rentiert das?›. Sondern fragt: ‹Lohnt sich das?›. Denn es rentiert nie, aber es lohnt sich.»

Warum wählt hier oben trotzdem kaum jemand links? Die Antwort gibt vielleicht der Mann aus dem Publikum, der sich empört, dass kein einziger Strassentunnel vom Norden ins Wallis führe, anders als im Tessin. Dabei sei die Nordgrenze des Wallis doch viel länger. «Keine wintersichere Strassenverbindung ins Wallis – ich finde das deprimierend.»

Die Ausstellung «Service public» läuft noch bis 31. März 2023. www.loetschentalermuseum.ch