Autonome Sozialarbeit: Ein offenes Ohr für alle
Auf der Berner Schützenmatte konzentrieren sich die sozialen Probleme der Stadt. Der Verein Medina sorgt dafür, dass die Situation nicht ausser Kontrolle gerät – und hilft vielen, die keine Perspektive haben.

Jetzt, in diesem Moment, gehe es gerade, sagt ein junger Mann mit einem Milchkaffee in der Hand auf Französisch. Er steht an einem Donnerstagabend auf der Schützenmatte in Bern, einem ehemaligen Parkplatz nah des Bahnhofs und der Reitschule. Ansonsten sei das Leben schwierig. Der Mann möchte Deutsch lernen. Die Chance, dass er dafür Unterstützung erhält, ist hier grösser als an jedem anderen Ort in der Stadt. Zudem winkt hier eine warme Mahlzeit.
Seit über fünf Jahren lädt der Verein Medina jeweils am Donnerstag- und Freitagabend zum gemeinsamen Kochen und Essen auf der Schützenmatte ein. Das Gemeinschaftszentrum im Container ist Treffpunkt und Anlaufstelle für Menschen mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen und Nöten. Das Team, das aus etwa 25 ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen besteht, bietet Sozialberatungen an und hilft Menschen in schwierigen Lebenslagen.
«Auf der Schützenmatte tummelt sich alles, was durch die Maschen des Sozialstaates fällt», sagt Livio Martina. Der 34-Jährige hat Medina mitgegründet. Um den Container herum entsteht ein reger Austausch – auch zwischen Menschen, die sich auf der «Schütz» üblicherweise meiden. Das gemeinsame Essen trage zu einem friedlichen Beisammensein bei, meint Martina. «Denn wenn man zusammen isst, vielleicht sogar noch Fussball oder etwas anderes spielt, ein offenes Ohr für die eigenen Probleme findet, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich zwei Stunden später absticht, doch ziemlich viel kleiner.» «Abstechen», das klingt brutal, ist aber tatsächlich eine von vielen Realitäten hier auf dem Platz, der als sozialer Brennpunkt berüchtigt ist.
Ohne Zuhause in der Pandemie
Während Martina erzählt, begrüsst er immer wieder Leute. Die meisten mit Handschlag und alle mit Namen. Eine Gruppe von Jungs weist er darauf hin, dass es etwa in einer Stunde Essen gebe. An einem kleinen Tisch mit Polstersesseln sind zwei Männer in eine Schachpartie vertieft. So friedlich geht es auf dem Rest des Platzes nicht immer zu und her. In den letzten Jahren habe sich die Schützenmatte stark verändert, sagt Martina. Gewalt, Raubüberfälle, ein Platz, aufgeteilt in Reviere verschiedener Banden. Während der Coronapandemie spitzte sich die Situation nochmals zu. Dann hiess es auch hier: «Bleiben Sie zu Hause.» Zurück blieben die Menschen, die kein richtiges Zuhause hatten. 2020, inmitten der ersten Pandemiewelle, packte Medina erstmals die mobile Gassenküche aus. In den Augen der Menschen auf dem Platz waren sie schräge Vögel, die da im Schutz der Eisenbahnbrücke Feuer machten und kochten, erzählt Martina. Anklang fand die Küche trotzdem.
Fehlende Zukunftsaussichten
Die Besucher:innen des Gemeinschaftszentrums organisieren das Kochen mittlerweile mehrheitlich selbst. So kann sich das Medina-Team ganz den Spontanberatungen widmen. Das Vermitteln von Schlafplätzen sei dabei am meisten gefragt, sagt Martina. Immer wieder übernachten Menschen auf der Schützenmatte, die insbesondere im Winter unter der Eisenbahnbrücke Schutz suchen. Mit der Kollekte, die in der Medina-Kasse zusammenkommt, werden auch Übernachtungen in der Notschlafstelle finanziert.
Aber auch bei anderen Anliegen kann Medina weiterhelfen: Oft gehe es ums Übersetzen von Briefen, um die Klärung juristischer oder gesundheitlicher Fragen, erklärt Martina. Der Verein Medina verfügt über ein breites Netzwerk von Kontakten bis hin zu anderen Anlaufstellen, an die sie regelmässig Leute weitervermitteln. Vernetzung sei in der autonomen Sozialarbeit – die ganz unabhängig von staatlicher Unterstützung funktioniert – unheimlich wichtig.
Es sind vielfach junge Männer, manchmal sogar Kinder, oft mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus, die Medina aufsuchen. Immer wieder kommen auch Menschen aus anderen Teilen der Schweiz nach Bern auf die Schützenmatte, weil sie vom Projekt gehört haben. Das grosse Engagement der vielen Freiwilligen, die sich auf dem Platz für die Menschen einsetzen, spricht sich herum. Und auch ausserhalb der Containeröffnungszeiten engagiert sich Medina vielfach weiter: Die Mitarbeitenden kommen auf Wohnungsbesichtigungen mit, helfen bei der Arbeitssuche oder stellen sich als Begleiter:innen für Gerichtstermine und Behördengänge zur Verfügung.
Die «Schütz» sei der vielleicht schwierigste Platz der Schweiz, sag Christoph Ris. Der 38-Jährige ist im Auftrag der Stadt Bern für die Koordination und die Bewartung des Platzes zuständig. Die Gewalt beschäftigt ihn derzeit sehr. Die Perspektivlosigkeit vieler Menschen, die hier verkehren, führe zu grossen Problemen und unschönen Szenen. Die negativen Auswirkungen des Drogendealens seien nicht immer so gravierend gewesen. Heute blieben viele Kids der neuen Skatebowl fern. Zu gefährlich sei die Situation geworden. Auch das Restaurant der Reitschule hat im Moment wenig Gäste. Das bereitet Ris Sorgen: Würde die Reitschule schliessen, wäre auch der Raum davor unbetreut. Für die Situation der an den Vorplatz anschliessenden «Schütz» bedeute das nichts Gutes. Autonome Sozialarbeit, wie sie Medina leistet, tue der Schützenmatte gut, meint Ris. Der soziale Mix sei wichtig und der Platz viel angenehmer, wenn etwas laufe.
Ein erster Puzzlestein
Das sieht auch Mo Stauffer so. Sie arbeitet seit einem Jahr bei Medina. Die 23-Jährige studiert Soziale Arbeit und Sozialpolitik. Sie ist überzeugt, dass der Container die Schützenmatte einladender mache. «Oft bewegen sich hier Menschen, die an anderen Orten in der Stadt vertrieben werden. Bei Medina finden sie Platz, können einfach sein», so Stauffer. Im und um den Container herum lösten Menschen ihre Konflikte oftmals selbst, beobachtet sie. Sie versteht Medina als einen ersten Puzzlestein. Niederschwellige Angebote wie dieses belebten die Schützenmatte und würden dabei helfen, die schwierige Situation auf dem Platz aufzufangen, sagt sie. Sie ist überzeugt: «Davon braucht es auf der Schützenmatte unbedingt mehr.»
An diesem Donnerstag trägt Stauffer die Abendverantwortung. Gewalt habe es heute nur wenig gegeben, vermeldet sie und setzt ein grünes Kreuz ins Protokoll. Dann schreibt sie auf, wie viel Geld der Verein eingenommen hat und welches Menü gekocht wurde. Heute gab es Suppe und Salat. Ausserdem wird im Protokoll festgehalten, wie viele Stunden Freiwilligenarbeit geleistet wurden «Wir sind uns bewusst, dass wir uns auch jener Probleme annehmen, die von der Asyl- oder Stadtpolitik produziert werden und somit von ihnen gelöst werden sollten», sagt Mitgründer Livio Martina, «aber wir haben keine Lust, einfach zuzuschauen, da es um Menschenleben geht.»