«Napoleon»: Die zwei Körper des Korsen

Nr. 49 –

Als Historiendrama ist Ridley Scotts «Napoleon» eine Farce. Bemerkenswert am Film ist, wie Joaquin Phoenix den Feldherrn spielt: weit weg von seinem römischen Kaiser damals in «Gladiator».

Filmstill: Joaquin Phoenix als Napoleon
Im Zweifelsfall genügen ein Kostüm und ein regloses Gesicht: Joaquin Phoenix als Napoleon. Still: Apple Films

Es ist Talleyrand, der Napoleon den folgenreichen Rat erteilt. Der Diplomat, der die Politik Frankreichs für weitere Jahrzehnte prägen sollte, schlägt dem General vor, sich zum Konsul auf Lebenszeit zu erklären. Das heisst, wie er anfügt, zum König. Als hätte ihn die Frage auf eine Idee gebracht, fragt der General zurück: «Zum König?» Bekanntlich wird er sich bald zum Kaiser krönen. Doch die hohe Politik ist lediglich punktuell im Blick in Ridley Scotts jüngster Verfilmung des historischen Stoffs. Worauf der Film stattdessen abzielt, bleibt erst mal offen.

Jedenfalls weiss der junge korsische Offizier Napoleon Bonaparte (Joaquin Phoenix), der von seinem Bruder in die politischen Kreise eingeführt wird, wie man Schlachten schlägt. Das Kriegsgeschehen nimmt sich zunächst lakonisch aus. Der Kommandeur und seine Kanoniere halten sich die Ohren zu, wenn es knallt. Napoleons Mörser werden vorgezeigt wie hotzenplotzsche Pfefferpistolen. Gefecht folgt auf Gefecht, aber auch das militärische Genie treibt diesen Plot nicht an.

Dem Eros erlegen

Kaum sind die Schüsse in Toulon verhallt, treffen wir Bonaparte in der ägyptischen Wüste wieder. Hier zittern die Pyramiden, der Feind fällt vom Pferd, und der General erkundet die Altertümer. Bald flieht er aus dem Land der Pharaonen, zurück zu seiner Gattin Joséphine (Vanessa Kirby). Im historischen Kontext bewusst als bürgerliche Ehe inszeniert, ist ihre Verbindung hier halb Zweckgemeinschaft, halb Amour fou. Monsieur ist dem Eros erlegen, Madame gibt als verwitwete Aristokratin eher einer Notwendigkeit nach. Die Kapriolen, die daraus entstehen, gehören mit zum Unterhaltsamsten, was der Film zu bieten hat. Ein plausibles Motiv wird aber auch daraus nicht.

Dem äusseren Gang der Handlung nämlich ist ihr Verhältnis nicht gewachsen. Umso deutlicher wird dies, je mehr sich das Geschehen aus den Salons und den Schlafkammern in die Nachrichtenwelt verlagert: Liebesbriefe werden über den Kontinent geschickt (und per Voiceover in den Kinosaal). Überhaupt erlahmt der Schwung der guten ersten Stunde. Alle hatten sie da ihren Auftritt, die Politiker und Generäle der Revolution: Robespierre, Talleyrand, Sieyès, Barras, Dumas. Sie treten auf in Fleisch und Blut, will heissen in rasanter Karikatur. Im weiten Raum des expandierenden Imperiums bleiben jedoch bald nur noch wenige Charakterchargen: der englische General Wellington (ein zäher Gentleman), Zar Alexander (ein pausbäckiger Schönling) und Bonaparte selbst.

Napoleon hat die europäische Ordnung umgekrempelt, den nationalistischen Populismus begründet, Errungenschaften der Grossen Revolution von 1789 in die Welt getragen und rund zwei Generationen Männer in den Tod geschickt. Er hat Nachahmer gefunden, einen davon in seinem Neffen, Louis Napoléon, der ebenfalls Kaiser wurde. Das Schicksal von Feldherren, so sagt man, liegt auf dem Schlachtfeld. Dasjenige einer historischen Persönlichkeit liegt in ihrem Nachruhm: in Legendenbildung, in politischer Publizistik und populärer Historiografie. Ähnliches gilt für die Stars der Unterhaltungsindustrie. Und so spielt sich auch Napoleons Geschichte hier gleich zweimal ab: einmal als Historiendrama, ein weiteres Mal als Rollenbiografie.

Aus der Rolle fallen

Rollenbiografisch führt «Napoleon» auf bemerkenswerte Weise das Schaffen von Hauptdarsteller Joaquin Phoenix fort. Man denkt vielleicht an Commodus, den römischen Kaiser, den er in «Gladiator» spielte, seiner ersten Zusammenarbeit mit Ridley Scott vor 23 Jahren. Doch so, wie er Bonaparte spielt, schliesst Phoenix weit eher an subalterne Figuren an: an den Kriegsveteranen Freddie Quell in «The Master», den Privatdetektiv Larry Sportello in «Inherent Vice», den Kopfjäger Charlie im Western «The Sisters Brothers». Als Napoleon ist sein Spiel wiederum geprägt von einem Verhältnis von Latenz und Übersprung: irritiertes Zurückschrecken, unwillkürliches Lachen; gehemmte Ausbrüche des Affekts. Das Overacting aber unterbleibt. Im Zweifelsfall genügen ein Kostüm und ein regloses Gesicht. So zeichnet sich Phoenix’ Napoleon durch eine Ironie aus, die beides kann: mitspielen und aus der Rolle fallen. Beides ist auch nötig, damit der Film nach gut zweieinhalb Stunden auf St. Helena zu einem Ende kommt.

Denn als Historiendrama ist dieser «Napoleon» eine Farce. Dabei wird Bonapartes Aufstieg zunächst temporeich und originell entfaltet, der Revolutionshintergrund effektvoll in die Szenen eingespielt. Die Schlachten jedoch, die im Drehbuch von David Scarpa die zweite Hälfte dominieren, haben dann nicht mehr viel beizutragen. Die Kamera dirigiert die Komparsen per Feldherrenblick. Das mag für militärgeschichtliche Didaktik interessant sein. Die Spezialisten haben sich auch bereits über die Details gebeugt und – wen wunderts? – sachliche Fehler bemängelt. Wenn man sich nicht gerade für englisch-französische Ressentiments interessiert, bleiben diese Szenen seltsam indifferent. Auch Phoenix leiht dem Film zuletzt zwar noch seine Persona. Sein spielerisches Repertoire aber hat er weitgehend abgezogen, bevor die Schlacht von Waterloo geschlagen ist.

«Napoleon». Regie: Ridley Scott. Grossbritannien / USA 2023. Jetzt im Kino.