Christian Petzold: «Der Kapitalismus macht die Welt gespenstisch»
Zwischen den Zeiten: In Christian Petzolds neuem Film «Transit» wird das heutige Marseille von den Flüchtlingen des Naziregimes heimgesucht.
WOZ: Christian Petzold, der Roman «Transit» von Anna Seghers begleitet Sie offenbar schon lange. Warum bedeutet Ihnen dieses Buch so viel?
Christian Petzold: Ich hatte das Buch durch meinen Freund Harun Farocki kennengelernt. Wir spielten zusammen Fussball, und auf der Fahrt zu einem Auswärtsspiel sagte ich, «Westwärts 1 & 2» von Rolf Dieter Brinkmann sei das beste Buch, das je in deutscher Sprache erschienen ist. Harun fragte mich dann, ob ich schon mal «Transit» gelesen hätte. Anna Seghers war für mich einfach eine langweilige kommunistische Schriftstellerin, ich hatte da noch nie etwas von ihr gelesen. Völlig daneben, sagte er und gab mir «Transit» zu lesen. Ich las es gleich übers Wochenende, es war eine der grossen Leseerfahrungen in meinem Leben. Das Buch hat Harun und mich in unserer Freundschaft begleitet, wir haben es gemeinsam einmal im Jahr gelesen.
Immer wieder?
Ja, es ist ein reiches Buch, man kann es immer wieder lesen – wie man auch gewisse Schallplatten immer wieder auflegt. «Transit» ist die Grundlage, vielleicht die Grundmetapher aller Filme, die wir gemacht haben.
Haben Sie einen Namen dafür, wie Sie den Roman verfilmt haben? Eine Aktualisierung, wie man immer wieder lesen konnte, ist Ihre Adaption ja eigentlich gerade nicht.
Erst mal sperre ich mich immer gegen das Wort «Verfilmung». Das heisst ja im Grund genommen, dass man Literatur in Bilder übersetzt – und das Kino ist keine Übersetzung. Das Einzige, was ich filme, ist die eigene Lektüre. Also die Empfindungen, die Assoziationen, die Räume, die ein Roman mir aufgestossen hat. Das sind die Materialien für einen Film.
Wie sind Sie denn darauf gekommen, die Geschichte von damals mit den Flüchtlingen von 1940 im heutigen Marseille anzusiedeln?
Bei Anna Seghers ist der Transit ja ein Übergangsraum zwischen Land und Meer, zwischen Europa und Amerika, zwischen Unfreiheit und Freiheit. Dieses Marseille ist aber auch ein Transitraum der Zeiten, zwischen dem Heute und dem Gestern, zwischen den heutigen Flüchtlingen, die im Film kurz zu sehen sind, und den Flüchtlingen von damals.
In Ihrem Film gleitet man als Zuschauer permanent zwischen den Zeiten, weil man nie genau sagen kann: Wird hier die Geschichte von 1940 durch die heutige Kulisse verfremdet, oder ist es unsere Gegenwart, die durch die Geschichte von damals neu lesbar wird?
Genau. 1940 wird ja die gesamte Intelligenz Europas vernichtet, die Gefühle und das Soziale werden nationalisiert und dadurch zerstört. Die Erfahrungen der Flüchtlinge damals sind eingegangen in die Nachkriegsordnung, in unsere Grundgesetze. Die Bundesrepublik hat ihre Asylgesetzgebung aus der Erfahrung von 1940. Und das wird heute beschnitten. Das Vergangene wird ja normalerweise als etwas gefilmt, das wir überwunden haben – den Krieg, den Bürgerkrieg, die Rache. Das Damalige nun aber im Heutigen zu erzählen und dass beides etwas miteinander zu tun hat: Das macht die Situation noch komplexer, aber auch schöner. Die Frage, die sich dann stellt, ist ja: Sind wir heute besser, haben wir irgendetwas gelernt?
So, wie Sie diesen Roman von 1944 verfilmt haben, ist das eigentlich auch ein Affront gegen deutsche Historienfilme und deren Umgang mit dem Naziregime: Da erzählt einer von damals, tut aber so, als wäre es heute!
Ein Affront würde ich nicht sagen. Ich finde nur diese Art von Rekonstruktionsfernsehen – es ist ja hauptsächlich Fernsehen – so ermüdend. Weil man schon weiss, was rauskommt: Gute Schauspieler tragen teure Kostüme und reden ganz theatralisch. Dann geht einer mit der Nebelmaschine durchs Bild, damit das so aussieht wie Staub und man das Gefühl bekommt, es sei alt. Das ist ein Elend, ich hasse das. Die Filme «historisch» zu machen, ist, das Kino zu töten. Kein Kinofilm ist historisch, es gibt keine vergangenen Filme. Ein Western hat nichts Historisches, das hat eine Gegenwärtigkeit: John Wayne oder James Stewart im Sattel – das ist jetzt. So funktioniert nun mal Vergangenheit im Kino: Sie ist jetzt.
Das heisst, die Konzeption leitet sich aus dem Medium her, nicht aus einer zeitgeschichtlichen Parallele, auf die Sie mit dem Film abzielen?
Nein, die Parallele kommt als Effekt, aber sie ist nicht die Ursache. Ich gehe im heutigen Marseille herum, und ich sehe das Panier-Viertel, das teilweise gesprengt wurde. Ich sehe das Mucem, das Museum, das auch an diese Sprengung erinnert. Ich sehe die Häfen, die die Deutschen gebaut haben, um ihre Militäranlagen unterzubringen, und wo jetzt Gewerkschaften gegen Emmanuel Macron streiken, während im Vieux-Port der Front National demonstriert. Das Alte und das Neue ist im selben Moment da. Es ist nicht indifferent, sondern es reibt sich. Das war für mich die Konzeption des Films. Aber das klingt komplizierter, als es ist.
Und Sie hatten nie Zweifel, dass diese Gleichzeitigkeit der Epochen im Film funktionieren würde?
Das war das Merkwürdige: dass es so klar und einfach ist, dass das geht. Dass es kein Kunstgriff ist, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wir gehen hier durch Zürich, da gibt es Häuser, die sind alt, und da gibt es Häuser, die sind neu. Vor manchen Häusern in Deutschland liegen Stolpersteine, die erinnern an die Deportierten, wir haben Denkmäler von irgendwelchen Feldherren – alles im selben Raum. Die Zeiten überlagern sich im selben Moment: Das ist eine Stadt. Warum muss ein Film immer wie ein Haus sein? Warum kann ein Film nicht wie eine Stadt sein?
Dass Sie diese Geschichte eben nicht in historischem Dekor ansiedeln, was heisst das nun politisch? Was erzählen uns die Figuren in «Transit» über die Migrationsbewegungen von heute?
Erst mal gar nichts. Ich hab mich darum nicht gekümmert. Ich nehme es wahr, aber es ist nicht der Gegenstand des Films, den ich gemacht hab – weil ich mich da nicht auskenne. Ich kann mich nicht in einen Mann aus Jemen oder Mali hineinversetzen. Das wäre anmassend, denen eine Geschichte überzustülpen. Ich kann nur über Dinge erzählen, die ich kenne. Oder ich kann meine Fremdheit gegenüber den Dingen erzählen, die ich nicht kenne. Aber ich kann nicht so tun, als ob das das Gleiche wäre. Die Flüchtlingsströme, die wir heute haben, sind sicherlich andere als damals. Interessant ist nur: Sie begegnen sich im Mittelmeer und in Hafenstädten wie Marseille.
Man könnte sagen, «Transit» ist ein Film, in dem unsere Zeit heimgesucht wird von den Flüchtlingen des Naziregimes. Setzen Sie hier irgendwie doch die Gespenstertrilogie fort, die Sie eigentlich für abgeschlossen erklärt haben?
Im Kino sind wir immer mit Gespenstern unterwegs. Ob das nun Western, Krimis oder Zombies sind: Das sind immer Leute, die eigentlich im Begriff sind, sich aufzulösen. Gespenster sind ja Zwischenreichwesen, wir als Zuschauer sind es in gewisser Weise auch. Deswegen ist das Kino immer noch allen anderen Formen der Bildbetrachtung überlegen – weil wir dort körperlich irgendwo sind und uns gleichzeitig in Auflösung befinden. Beim Fernsehen bleiben wir immer wir selber, vor dem Fernseher oder vor dem Computer. Die Figuren in «Transit» kämpfen mit Händen und Füssen dagegen, Gespenster zu werden. Mich interessieren immer Figuren, die etwas nicht einsehen oder bei etwas nicht mitmachen wollen. Die eigentlichen Gespenster in «Transit» sind für mich ja wir aus der Neuzeit.
Wieso das?
Die Protagonisten in ihrer Schönheit, ihrer Anmut und auch in ihren Erzählungen sind viel weniger geisterhaft als die H & M-Läden im Hintergrund. Unsere eigene Fussgängerwelt, die Gleichheit der Städte: Das ist doch viel gespenstischer als das, was die Figuren im Film machen.
Deshalb klingt der Begriff «Transit» heute auch so steril: In erster Linie denken wir dabei doch an alle diese Abflughallen mit ihren Duty-free-Shops.
Das Tolle am Berliner Flughafen Tegel ist doch: Da gibt es keine Transitzone! Du gehst rein und raus. Deswegen wollen sie heute keine solchen Flughäfen mehr, weil man da kein Geld verdient. Nach der Gepäckkontrolle werden wir durch Supermärkte bis zum Gate geführt: Rolex, Bulgari, Boss, dann gibt es irgendwo einen Laden mit regionalem Scheiss. Wir sind keine Bürger, sondern Konsumenten, das hältst du nicht aus. Der Kapitalismus macht die Welt gespenstisch. Der Faschismus hat andere Transitzonen geschaffen, und diese beiden Formen von Transit begegnen sich im Film.
Und in Transiträumen finden Erzählungen statt. Wenn jemand seinen angestammten Raum verlässt und in den Übergang gerät, wenn einer aus seinem Auto aussteigt, an einer Stelle, wo er noch nie ausgestiegen ist – dann beginnt das Kino. Geschichten beginnen nicht bei Leuten, die bleiben. Die, die den Jägerzaun um ihr Grundstück ziehen, taugen höchstens mal für einen Kurzfilm.
«Transit»
Auf der Flucht vor den Nazis nimmt ein Mann (Franz Rogowski) im besetzten Paris die Ausweispapiere eines deutschen Schriftstellers an sich, der sich in seinem Hotelzimmer umgebracht hat. In Marseille kreuzt er dann wiederholt dessen Frau (Paula Beer), die hier auf ihren Mann wartet, um mit ihm auszureisen – unwissend, dass er tot ist.
Wie zuletzt in «Phoenix» (2014) entfaltet Christian Petzold (57) auch in seinem neuen Film «Transit» ein hochgradig konstruiertes Melodrama vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs – hier aber ohne historisches Dekor. Die Figuren aus Anna Seghers’ Exilroman «Transit» (1944) treiben verloren durchs heutige Marseille, wie Gespenster, die uns aus einer vermeintlich anderen Epoche heimsuchen. Bestechend, betörend.
«Transit». Regie und Drehbuch: Christian Petzold. Deutschland 2018. Jetzt im Kino.