Filmfestival Fribourg: Der Hippopotamus und der Hunger
Nach dem Exodus lebt das venezolanische Kino im Exil weiter: Eine Begegnung mit Mariana Rondón, Regisseurin der dystopischen Fabel «Zafari».

Was das Kino in ihrem Herkunftsland angeht, macht sich Mariana Rondón keine Illusionen: «Wie soll es noch Filmschaffende geben in einem Land, aus dem acht Millionen Menschen geflüchtet sind, ein Drittel der Bevölkerung?» Für ein Land, das sich nicht in einem Krieg befinde, sei das Weltrekord, sagt die Regisseurin beim Gespräch am Filmfestival in Fribourg.
Die 58-jährige Venezolanerin lebt heute in Peru; mit ihrem neuen Film «Zafari» war sie jetzt zu Gast in Fribourg. International bekannt geworden ist Rondón vor elf Jahren mit «Pelo malo», ihrem dritten langen Spielfilm. Als erste Filmschaffende aus Venezuela holte sie damals den Hauptpreis an einem der grossen europäischen Filmfestivals. «Pelo malo», preisgekrönt in San Sebastián, war ein stilles Drama um eine alleinerziehende weisse Mutter, die vom Gedanken besessen ist, ihr kleiner Sohn könnte homosexuell sein. Analog zur Obsession der Mutter will der Junge das «schlechte Haar», das er von seinem Schwarzen Vater geerbt hat, um jeden Preis glätten. Noch selten hat ein Film aus Lateinamerika Homophobie und Rassismus so subtil denunziert und so eindringlich eine intolerante und machistische Gesellschaft kritisiert.
Hochhaus mit Poolblick
«Pelo malo» war klar im damaligen Venezuela angesiedelt – in einer Zeit, als sich der Chavismus, der einst so hoffnungsvoll begonnen hatte, bereits im freien Fall befand und Comandante Hugo Chávez im Sterben lag. Dagegen ist der neue Film von Mariana Rondón weder zeitlich noch geografisch klar verortet. Schauplatz von «Zafari» ist ein Hochhaus mit Eigentumswohnungen, wo bald nichts mehr funktioniert: kein Strom, keine Wasserzufuhr, keine Lebensmittelversorgung. Das Haus könnte irgendwo in einer Grossstadt Lateinamerikas stehen.
Im Zentrum des Films steht ein gutbürgerliches Ehepaar, das mit seinem Sohn ein geräumiges Appartement im Hochhaus bewohnt. Mit wachsender Sorge sieht die Familie, dass der hauseigene Pool neuerdings auch von den Bewohner:innen einer gegenüberliegenden Ruine benutzt werden darf. Zudem hat die Stadtverwaltung den Marginalisierten aus der Ruine auch noch die Sorge für ein Nilpferd anvertraut, das neu im benachbarten Zoo angekommen ist. Dieses Nilpferd namens Zafari wird dann zur eigentlichen Hauptfigur des Films.
«Zafari» ist ein Genremix aus Sozialsatire und Familiendrama mit subtilen Anklängen ans Horrorkino. Die Regisseurin selber nennt den Film eine dystopische Fabel. Rondón betont, «Zafari» sei kein Film über Venezuela: «Wenn Sie wollen, können Sie auch Venezuela darin sehen. Ich glaube aber, dass das, was wir hier zeigen, sich so oder ähnlich in jedem krisengeschüttelten Land und in unterschiedlichen Epochen ereignen kann.» Der Ausgangspunkt für die Geschichte, sagt Rondón, sei ein bizarrer Vorfall im Zoo von Caracas gewesen, über den sie 2015 in einer Zeitung gelesen habe.
Marité Ugás, ihre Produzentin und Partnerin, erzählt von ähnlichen Geschichten, die in den achtziger Jahren in ihrem Heimatland Peru die Runde gemacht hätten. Damals, auf dem Höhepunkt des schmutzigen Krieges gegen die Terroristen des Sendero Luminoso, seien in Lima ebenfalls Zootiere auf mysteriöse Weise verschwunden. Und sie erinnert auch an eine berühmte Begebenheit aus dem belagerten Paris der Commune von 1871, als die hungernden Menschen nicht nur Ratten und Hunde, sondern auch eine Giraffe aus dem Zoo schlachteten und aufassen.
Flüchten wie die Tiere
Entstanden ist «Zafari» als Koproduktion von nicht weniger als fünf lateinamerikanischen Ländern zusammen mit Frankreich. Gedreht hat Mariana Rondón in Lima und in Santo Domingo, dazu kam ein kurzer Nachdreh in Mexiko-Stadt. Faszinierend, wie der kammerspielartige Film den Eindruck eines einzigen Orts vermittelt, mit diesem Hochhaus mit Blick auf den Pool, das Ruinengebäude und den daran angrenzenden Zoo. Dabei liegen die Locations Tausende von Kilometern auseinander, wie Mariana Rondón erzählt: Sämtliche Aufnahmen von Wohnung und Hochhaus wurden in Lima gedreht, alle Aussenaufnahmen in Santo Domingo.
Rondón, die auch als bildende Künstlerin tätig ist, hat Venezuela bereits 2016 verlassen, wie vor ihr schon mehrere Millionen Landsleute. Zwar gebe es noch Filmschulen in Venezuela, und es würden dort auch noch Student:innen ausgebildet, aber nach Abschluss ihrer Ausbildung würden sie das Land gleich verlassen. Von den Etablierten der einstigen venezolanischen Filmszene lebe heute praktisch niemand mehr im Land, sagt Rondón. Sie erwähnt etwa Lorenzo Vigas, den Regisseur des Schwulendramas «Los amantes de Caracas» (2015), in Venedig damals mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Von der Crew des Films lebe niemand mehr im Land, und auch alle Mitwirkenden aus «Pelo malo» seien emigriert.
In gewisser Weise spiegelt sich dieser Exodus auch in der Widmung am Ende von «Zafari». Der Film ist einer ganzen Reihe von Zootieren gewidmet, deren Name mit einem Kreuz versehen ist: «Für Safari, das Nilpferd im Zoo von Caracas, 2017; für Miss Congeniality, die Zebrastute im Zoo von Maracay, 2018; für Ruperta, die Elefantendame im Zoo von Caracas, 2018; und für die 800 Flamingos im Nationalpark von Falcón, 2017». Alles Tiere, die dasselbe Schicksal erlitten wie die Giraffe im Paris des Jahres 1871.