Atomkraft: Ein Vorbild steht still
Das französische AKW Flamanville 3 wird in der Schweiz gerne als positives Beispiel für moderne Reaktoren bezeichnet. Doch das AKW hat mehr Probleme als bisher bekannt.
Spätestens seit Energieminister Albert Rösti im August bekannt gab, dass der Bundesrat das AKW-Bauverbot aufheben wolle, wittert die Atomlobby Morgenluft. Noch ist offen, ob der erst 2017 von der Stimmbevölkerung beschlossene Ausstieg aus der Atomenergie tatsächlich in Gefahr ist – und jemals neue Reaktoren gebaut werden: Der Widerstand dagegen ist gross, die linken Parteien, die GLP und Umweltverbände kritisieren die Pläne des Bundesrats als «unsinnige Rückkehr» zur Atomenergie. Vom «Blick» zum politischen Schritt ihres Nachfolgers befragt, gab auch die ehemalige CVP-Energieministerin Doris Leuthard zu Protokoll, der Bau neuer Reaktoren sei keine Lösung – zu teuer, zu ungelöst das Problem mit der Endlagerung.
Derweil ist in Medienberichten, in denen es um die Zukunft der Atomkraft im In- und Ausland geht, immer wieder vom französischen Reaktor Flamanville 3 die Rede. Dieser steht an der Küste des Ärmelkanals in der Normandie. Er ist ein sogenannter europäischer Druckwasserreaktor der dritten Generation, kurz EPR. Insgesamt vier dieser Reaktoren gibt es in Europa – alle machen mit enormen Bauverzögerungen und Kostenüberschreitungen von sich reden. So auch Flamanville 3: Dieser ging im Dezember 2024 nach siebzehn statt fünf Jahren Bauzeit ans Netz. Statt der geschätzten 3,3 Milliarden hat der Bau 23,7 Milliarden Euro gekostet.
«Le Temps», «Watson», die NZZ und weitere Medien berichteten in diesem Sommer zwar über die lange Bauzeit und die hohen Kosten. Doch in der NZZ hiess es im August auch, dass das AKW zu den leistungsstärksten weltweit zähle und rund zwei Millionen Haushalte mit Strom versorge. Und in einem Interview in den Tamedia-Titeln sagte ETH-Professorin Annalisa Manera, Reaktoren der neuen Generation – wie Flamanville 3 – produzierten so viel Strom wie 1350 grosse Windkraftanlagen und hätten keine Sicherheitsmängel mehr.
Fehlerhaftes Druckventil
Was aber keines dieser Medien erwähnte, ist, dass der EPR Flamanville seit Ende Juni gar keinen Strom mehr produziert. In der Schweizer Mediendatenbank ist diese Information einzig einer französischsprachigen Agenturmeldung von Anfang Juli zu entnehmen: Dort ist nachzulesen, dass der Reaktor am 19. Juni im Rahmen von Inbetriebnahmetests heruntergefahren wurde. Und dass er länger als ursprünglich geplant abgeschaltet bleibe, voraussichtlich bis zum 13. August, «um Bauteile von Ventilen des Primärkreislaufs zu bearbeiten», wie der Energieversorger gegenüber der Nachrichtenagentur AFP erklärte. Ziel sei, dass das AKW noch vor Ende des Sommers seine volle Leistung erbringen könne.
Doch das AKW blieb stillgelegt – und zwar nicht nur wegen blosser Wartungsarbeiten. Ende Juli vermeldete die französische nichtstaatliche Organisation Commission de recherche et d’information indépendantes sur la radioactivité (CRIIRAD), dass Flamanville wegen der Fehlfunktion eines Sicherheitsventils abgeschaltet worden sei. Das Strahleninstitut warnt vor der Ernsthaftigkeit der Situation: «Eines der drei Ventile des Druckhalters blieb in offener Position blockiert – ein Defekt, der im Reaktor zu einem Austritt radioaktiver Stoffe führen kann», schreibt CRIIRAD. Das ordnungsgemässe Funktionieren dieser Ventile sei entscheidend für die nukleare Sicherheit, andernfalls könne ein schwerer Unfall mit Kernschmelze drohen.
Hinzu kommt: Der Reaktor erzeugt nicht nur keinen Strom, sondern verbraucht vielmehr welchen: laut Daten des französischen Netzbetreibers RTE vom 1. bis zum 18. September durchgehend zwischen 16 und 26 Megawatt. Zudem hat die französische Atomaufsichtsbehörde ASNR am 20. August eine unangekündigte Inspektion durchgeführt – und in ihrem Bericht sowohl das Krisenmanagement als auch die Krisenmittel des Reaktors als unzureichend eingestuft.
Tragweite heruntergespielt
Beim Stromhersteller EDF, der den Reaktor betreibt, beisst man mit Fragen zu den Sicherheitsproblemen von Flamanville 3 auf Granit: Diese «erste Startphase», in der sich der Reaktor befinde, sei nicht repräsentativ für den regulären Betrieb. Die Sicherheitsanforderungen seien erfüllt, heisst es. Am 17. Oktober solle der Reaktor wieder ans Netz. Auch ETH-Professorin Annalisa Manera spricht von Tests, Kalibrierungen, Anpassungen. Flamanville 3 sei einer der ersten seiner Art, da sei es normal, dass diese Tests länger dauern würden als geplant. Reaktoren wie jener in Frankreich könnten für Manera durchaus «relevant für die Energiezukunft der Schweiz» sein – sollte die Schweiz den Ausstieg aus der Atomenergie überdenken.
Bruno Chareyron, selbst Nuklearphysiker und langjähriger Mitarbeiter von CRIIRAD, übt derweil scharfe Kritik. Chareyron sagt, der Stromhersteller EDF sei geschickt darin, die Tragweite der Störungen herunterzuspielen. «Offiziell heisst es dann jeweils, Stillstände und Probleme seien normal.» Doch die Probleme des EPR Flamanville seien tiefgreifender Natur. «Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder Alarm geschlagen. Unsere Einschätzung: Dieser Reaktor wird aufgrund zahlreicher Konstruktions- und Ausführungsfehler wahrscheinlich niemals zuverlässig laufen.» Chareyrons Urteil fällt deutlich aus: «Die Atomaufsichtsbehörde hätte die Inbetriebnahme nie genehmigen dürfen.»