Atomkraft in Finnland: Potemkins Reaktor

Auf der Halbinsel Olkiluoto haben die Vorarbeiten für den Bau eines neuen AKWs begonnen – es ist der erste Neubau in Westeuropa seit zehn Jahren. Die Atomlobby verwies erfolgreich auf die schlechte Luft.

«Ydinhulluusalue», von Dummheit verseuchtes Gebiet. Ende August sperrten über hundert Anti-Atomkraft-AktivistInnen unter dieser Parole symbolisch die Halbinsel Olkiluoto an der finnischen Westküste ab. Mit Transparenten, Schildern, Absperrbändern und ausgerüstet mit gelber Schutzbekleidung und Atemmasken. Zwei Atomreaktoren stehen hier bereits, die vorbereitenden Erdarbeiten für einen Neubau – es soll Finnlands fünfter Reaktor werden – sind in vollem Gange. Konnte man diesen schon nicht verhindern, will die Antiatombewegung wenigstens versuchen, die «Verdummung» auf Olkiluoto und Finnland zu begrenzen. Denn dank Finnland hofft die internationale Atomindustrie auf ein Comeback.

Mit Olkiluoto 3 wird nach einem Jahrzehnt erstmals in der westlichen Welt wieder mit der Realisierung eines Reaktorneubaus begonnen. Und Olkiluoto ist der erste Reaktor, der in einem deregulierten Strommarkt gebaut wird. Ein deutsch-französisches Baukonsortium (siehe unten) will in Olkiluoto den Prototyp des «European Pressurized Water Reactor» (EPR) errichten. Mit 1600 Megawatt (MW) soll dieser nicht nur der weltweit leistungsstärkste, sondern auch ein «absolut sicherer» Reaktor werden. In Finnland soll bewiesen werden, dass AKW-Neubauten politisch möglich, technisch unbedenklich und auch noch wirtschaftlich profitabel sind.

Kampf um die Frauen

Finnlands bisherige Reaktoren – zwei sowjetische und zwei US-amerikanisch-schwedische Konstruktionen – erhielten alle in den siebziger Jahren die Baugenehmigungen. Damals waren die potenziellen Wasserkraftreserven des Landes nahezu vollständig ausgebaut. Fossile Elektrizitätserzeugung gibt es in Finnland nur in geringem Umfang. Und die energiefressende Papier- und Zellstoffindustrie verlangte nach weiterem billigem Strom. So startete die Atomlobby bereits in den achtziger Jahren eine neue Kampagne zum Bau eines fünften Reaktors. Allerdings scheiterte ein erster Anlauf im Parlament 1986 klar und ein zweiter 1993 knapp mit 107 zu 90 Stimmen.

Beim dritten Versuch sparte die Atomlobby weder an Geld noch an der Anlaufstrecke. Man änderte Strategie und Taktik. So wurden die Posten der Medien- und PR-Verantwortlichen so weit als möglich mit Frauen besetzt. Schliesslich sollten gerade die mehrheitlich atomkritischen Finninnen überzeugt werden. Der Zeitpunkt der Antragstellung durch «Teollisuuden Voima» (TVO), Finnlands zweitgrössten Stromproduzenten, wurde generalstabsmässig geplant und das Terrain durch eine lange bearbeitete und nahezu vollständig auf Pro-Atom-Kurs eingeschwenkte Presse gründlich vorbereitet. Und die Antiatombewegung, die sich nach dem Sieg von 1993 grossenteils aufgelöst hatte und lange nicht so recht an den Erfolg dieses neuen Vorstosses glauben mochte, erwachte viel zu spät.

TVO rückte das Klimaargument in den Vordergrund. Finnland produziert jährlich 12,4 Tonnen Kohlendioxid (CO2) pro Kopf der Bevölkerung, was EU-Rekord bedeutet. Aus diesem Grund steht das Land international am Pranger. Die Atomlobby verspricht deshalb eine bequeme Alternative zu den eigentlich nötigen Energiesparmassnahmen: Die Kioto-Ziele und die eingegangene Verpflichtung zu einer Reduktion des Ausstosses von klimaschädigenden Abgasen soll mit dem Bau eines vermeintlich CO2-neutralen AKWs erreicht werden.

Gewerkschaften eingebunden

Dem Drängen der Wirtschaft gaben zunächst die Gewerkschaften nach. Statt teuren Sparens angeblich billiger Stromüberschuss: Das zog als Argument angesichts des von allen Seiten beschworenen internationalen Standortwettbewerbes. Zudem sass allen noch die Wirtschaftskrise der neunziger Jahren in den Knochen, mit Arbeitslosenraten von zwanzig Prozent. Die vereinte Lobbyarbeit von Wirtschaft und Gewerkschaften zielte dann vor allem auf die Sozialdemokratie und drehte tatsächlich die ein Jahrzehnt vorher erreichte Mehrheit um: Im Mai 2002 stimmten 107 Reichstagsabgeordnete für und 92 gegen den AKW-Neubau, der zudem als willkommene Arbeitsbeschaffungsmassnahme verkauft wurde.

Eine grosse Rolle bei der Entscheidung vieler Abgeordneter spielte dabei, dass die Atomlobby mehrere Monate vorher verkündet hatte, Finnland habe das Atommüllproblem gelöst. Als erstes Land der Welt noch dazu. Tatsächlich aber hat man keine Lösung, sondern nur einen Plan: das Projekt eines unterirdischen Lagers. Dort, einige hundert Meter tief im Urgestein und nicht weit von der jetzigen Baustelle entfernt, glaubt man die nuklearen Hinterlassenschaften für einige hunderttausend Jahre «sicher» ablagern zu können. Und ob das nun der Müll von vier oder fünf Reaktoren sei, spiele dann ja auch keine Rolle mehr. Die Frage der tatsächlichen Realisierbarkeit des Lagers – das Jahr 2020 wird als Fertigstellungsdatum angepeilt – steht allerdings in den Sternen.

Über die Wirtschaftlichkeit des neuen Reaktors hat sich die Politik bislang nicht gekümmert. Die Antiatombewegung glaubte lange, dass daran sowieso alle Pläne scheitern würden. «Lasst sie doch bauen», kommentierte beispielsweise die Tageszeitung «Hufvudstadsbladet»: Es sei nicht Sache des Staates, die Industrie vor ruinösen Investitionen zu bewahren. Angesichts des gegenwärtigen Strompreisniveaus wäre die Investition tatsächlich nicht rentabel. Die Stromindustrie rechnet offenbar mit massiv steigenden Preisen.

Französischer Staat hilft mit

Die Baukosten scheint TVO im Griff zu haben. Aufgrund der Konkurrenz zwischen den potenziellen Reaktoranbietern wurde ein Festpreis von drei Milliarden Euro ausgehandelt. Ein Freundschaftspreis: Das Vorläufermodell des ERP, der N-4, in vier Exemplaren in Frankreich errichtet, kostete nach einer von der französischen Betreibergesellschaft EDF 1996 aufgestellten Berechnung damals schon 3,3 bis 3,5 Milliarden Euro. Mit einiger Sicherheit werden die tatsächlichen Baukosten (wegen der hohen Stahlpreise und Änderungen am Sicherheitsdesign) den Festpreis erheblich übersteigen. Die Kostenüberschreitung muss das Framatome-Siemens-Baukonsortium selbst übernehmen.

Auch sonst haben die Bauherren Spezialbedingungen bekommen. Zwar verzichtete Siemens von sich aus auf Bürgschaften des deutschen Staates, nachdem die Grünen dagegen Widerstand angekündigt hatten und deshalb in Berlin eine Koalitionskrise drohte. Doch sollen staatliche französische Exportkredite Teil des Deals sein. Dank diesen Krediten und dem durch die Festpreisregelung gesenkten Risiko konnte TVO bei seinen Kreditgebern rekordverdächtig niedrige Darlehenszinsen in Höhe von 2,6 Prozent aushandeln. Ob Atomstrom aus Neu-AKW auf einem liberalisierten Strommarkt wettbewerbsfähig sein kann, lässt sich am Beispiel Olkiluoto also nicht ablesen.

Wirtschaftlich gesehen wird hier ein potemkinscher Reaktor gebaut, den die Atomlobby gerne als Modell verkaufen möchte. Die Atomindustrie und ihre Lobby werden versuchen, diesen Reaktor massiv zu vermarkten. Nicht nur in der Schweiz forciert die AKW-Lobby die Debatte um den Bau eines solchen Reaktors. Frankreichs Regierung hat im April eine Grundsatzentscheidung für den EPR getroffen. In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts sollen dort gleich mehrere in Bau gehen. Und in Deutschland machte sich die Wochenzeitung «Zeit» gerade Gedanken darüber, ob nicht gerade die Sozialdemokratie, weil ja ihr «Verhältnis zur Atomkraft nicht identitätsbildend» sei, perfekt als «Wiedereinstiegshelferin» in ein neues Atomkraftzeitalter passen könnte.

Lange glaubte man, im Westen würden in den nächsten Jahren aus ökonomischen Gründen keine neuen Atomkraftwerke gebaut. Nun sieht alles anders aus: Finnland erstellt einen riesigen neuen Reaktor – ein französisch-deutsches Modell, das angeblich sicherer sein soll als alle bestehenden Anlagen. Frankreich hat ebenfalls beschlossen, ein neues AKW zu bauen. Die Schweizer Stromkonzerne machen auch schon Druck. Das Atomgeschäft boomt wie schon lange nicht mehr.

Der Euroreaktor: Umstrittene Sicherheit

Der Euroreaktor (EPR) ist ein bislang noch nirgends realisierter Prototyp. Gebaut wird er vom französisch-deutschen Konsortium Framatome ANP. Die französische Framatome, die den nuklearen Teil beisteuert, ist mit zwei Dritteln daran beteiligt, die deutsche Siemens (zuständig für Dampfturbine, Generator, Leittechnik) mit einem Drittel. Das Konsortium behauptet, dieses AKW sei zehnmal sicherer als existierende Druckwasserreaktoren. Stephan Kurth vom Öko-Institut Darmstadt widerspricht: «Die grundsätzlichen Probleme bleiben bestehen.» Man habe eine grosse Menge Radioaktivität und Wärme auf kleinstem Raum. Die Kühlung erfordere komplizierte Sicherheitssysteme, die irgendwann versagen könnten. Ein Reaktor, der von sich heraus sicher sei (vgl. unten) und bei dem deshalb nichts passieren könne, sei der EPR nicht. Nach Ansicht der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) ist der Euroreaktor zwar gross, aber sicher ist er nicht. Die elektrische Leistung von 1600 Megawatt stelle eine Abkehr von der einst geforderten «inhärenten Sicherheit» dar. Man setze auf «supergross», um die Produktionskosten nicht völlig ausufern zu lassen.

Jean-Marc Cavedon, Leiter des Bereichs Nukleare Energie und Sicherheit am Paul-Scherrer-Institut im Schweizer Villigen verglich vor einigen Monaten im «Tages-Anzeiger» den Europäischen Druckwasserreaktor mit der neuen Version eines vorhandenen Automodells: «Das Auto hat mehr und grössere Airbags und bessere Bremsen.» Entscheidend sei aber, ob man in einem Auto einen Zusammenstoss unbeschadet überstehe. Und das sei zu verneinen. Die wesentliche Neuentwicklung des Reaktors ist ein Auffangbecken, in das – im Falle einer Kernschmelze – hoch radioaktives Material abfliessen und gekühlt werden soll. Ein Sicherheitssystem, das nicht nur die IPPNW für wenig überzeugend hält: Die Schmelze müsste zur Kühlung gezielt mit Wasser bedeckt werden, was die in diesem Zusammenhang gefürchteten Dampfexplosionen geradezu herbeiführen könne.

Auf Seiten des finnischen Bauherrn federführend ist der Stromkonzern Teollisuuden Voima Oy (TVO), eine Aktiengesellschaft, an der private wie kommunale Eigentümer beteiligt sind. Damit der Reaktor nach den derzeit laufenden vorbereitenden Bauarbeiten tatsächlich wie geplant ab Sommer 2005 in Olkiluoto errichtet werden kann, fehlt bislang noch eine formale Baugenehmigung. Um diese zu erhalten, muss der EPR spezifische Sicherheitsbedingungen erfüllen, welche das finnische Strahlenschutzgesetz verlangt. Zu denen gehört, dass weder eine Kernschmelze noch eine mit einem Passagierflugzeug ausgeführte Terrorattacke zu einem «ernsten» Austritt von Radioaktivität in die Umwelt führt. Von vielen ExpertInnen werden diese Vorgaben als nicht erfüllbar eingeschätzt. Die Konzeption des EPR begann lange vor dem 11. September 2001. Finnlands Strahlenschutzbehörde STUK soll vor einer möglichen Genehmigung bereits verschiedene Konstruktionsänderungen verlangt haben. Aufgrund des politischen wie wirtschaftlichen Drucks scheint es aber nahezu ausgeschlossen, dass die Behörde den Bau tatsächlich noch stoppen könnte. Der Öffentlichkeit wird in weite Teile des Genehmigungsverfahrens der Einblick verweigert. Offiziell aus «Konkurrenzgründen».

Finnlands Anti-AKW-Bewegung zu Olkiluoto: www.olkiluoto.info

IPPNW zum Euroreaktor: www.ippnw.de/atom/finnland.htm