Bruno Chareyron: Was, wenn es auch den Atomkraftwerken zu heiss wird?
Atomenergie ist keine «saubere Lösung» – ganz im Gegenteil: Der Nuklearexperte warnt vor ihren Gefahren, von der Uranmine bis zu den radioaktiven Abfällen, und vor technologischen Illusionen.

WOZ: Bruno Chareyron, wo stehen wir gerade?
Bruno Chareyron: Seit einigen Jahren wird die Atomkraft wieder salonfähig – vor allem im Kontext der Klimakrise. Manche stellen sie als saubere, ja sogar unverzichtbare Energiequelle für die Dekarbonisierung dar. Doch diese Sichtweise blendet die vielen Schwächen dieser Technologie aus. Erstens: die Abhängigkeit vom Uran, einem radioaktiven Metall, das unter sehr umweltschädlichen Bedingungen gefördert wird. Zweitens: Die gesamte nukleare Kette – vom Abbau über die Anreicherung und den Transport bis hin zum Einsatz in Reaktoren – setzt Arbeiter:innen wie Anwohner:innen einer fast konstanten Strahlenbelastung über Luft und Wasser aus. Drittens: Bis heute kann niemand garantieren, dass hochradioaktive Abfälle für Jahrtausende sicher eingelagert werden können. Schliesslich besteht das Risiko schwerer nuklearer Unfälle – eine Möglichkeit, die Strahlenschutzbehörden selbst für Frankreich und Europa insgesamt einräumen.
WOZ: Fangen wir beim Abbau des Urans an.
Bruno Chareyron: Die Probleme beginnen im Moment, in dem man Uran aus dem Boden holt: Der Anteil des für die Kernspaltung verwendbaren Isotops Uran-235 beträgt im natürlichen Uranerz nur etwa 0,7 Prozent der Gesamtmasse. Und etwa 99,3 Prozent des Uranerzes bestehen aus dem Isotop Uran-238, das nicht spaltbar ist und daher auch nicht direkt genutzt werden kann. Es muss erst angereichert werden – und es hat eine Halbwertszeit von 4,5 Milliarden Jahren, seine Radioaktivität nimmt also erst über unfassbar lange Zeiträume ab. In Frankreich, wo seit den 1940er Jahren bis 2001 etwa 80 000 Tonnen nutzbares Uran gewonnen wurden, gibt es mehr als 50 Millionen Tonnen radioaktiver Rückstände aus dem Uranabbau, die bis heute nicht korrekt gesichert sind. Während Jahrzehnten wurden einige dieser radioaktiven Abfälle aus dem Bergbau sogar im Strassenbau, für Parkplätze oder Schulhöfe verwendet. Die Criirad (Commission de recherche et d’information indépendantes sur la radioactivité), für die ich seit 1993 arbeite, hat zahlreiche Messungen rund um Uranminen durchgeführt – und praktisch überall erhebliche radioaktive Belastungen gefunden, egal ob in Frankreich, im Niger, in Malawi oder in Namibia.
«Die heutigen Anlagen sind nicht für alle Extremereignisse ausgelegt.»
WOZ: Ist es schwierig, unabhängige Messungen durchzuführen?
Bruno Chareyron: Ja. Zugang zu den Anlagen zu erhalten, ist sehr kompliziert bis unmöglich. Deshalb messen wir meist im Aussenbereich, im öffentlichen Raum. So konnten wir etwa in den neunziger Jahren Plutonium in den Sedimenten der Rhone in der Camargue nachweisen, die von radioaktiven Emissionen des Kernkraftwerks Marcoule verursacht wurden – eine Kontamination, von der die breite Öffentlichkeit damals nichts wusste. Unsere Messungen zeigen auch, dass es in den Alpen bis heute Gebiete gibt, in denen der Boden seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 derart kontaminiert ist, dass er mit radioaktiven Abfällen vergleichbar ist. Die Atomindustrie mag unsere Untersuchungen nicht. 2003 wollten wir die Radioaktivität rund um eine Uranmine im Niger messen, und unsere Geräte wurden am Flughafen konfisziert.
WOZ: Sie haben Nukleartechnik studiert und waren anfangs von Atomenergie fasziniert. Heute sind Sie einer ihrer schärfsten Kritiker:innen. Was hat Ihre Sichtweise verändert?
Bruno Chareyron: Die Konfrontation mit der Realität. Während meines Studiums der Energie- und Nukleartechnik wurde uns eine sehr positive Sichtweise auf diese Technologie vermittelt: Man hat uns gesagt, radioaktive Abfälle seien beherrschbar, schwere Unfälle in einem entwickelten Land praktisch unmöglich, und Radioaktivität sei gar nicht so gefährlich. Aber während meiner Feldarbeiten für die Criirad habe ich eine ganz andere Realität gesehen: Wir haben die Abfälle nicht im Griff; Uran ist gefährlich für die Gesundheit, obwohl es natürlich ist; und die Bergbauunternehmen produzieren oft unter inakzeptablen Bedingungen, indem sie die Arbeiter:innen exponieren und die Umwelt langfristig verschmutzen.
WOZ: In Ihrem neuen Buch zu Atomenergie sprechen Sie von gezielter Desinformation. Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Bruno Chareyron: Ja, davon gibt es viele. Ich denke zum Beispiel an einen jungen Ingenieur, der in einer Uranmine im Niger arbeitet. Er erklärte Journalist:innen, dass von den Fässern mit Urankonzentrat keine Radioaktivität ausgehe, weil das Metall angeblich alles abschirme. Das ist schlicht falsch. Wir haben solche Fässer untersucht, als sie in Frankreich ankamen – und dabei festgestellt, dass die Strahlung so stark ist, dass sie noch in über 200 Metern Entfernung nachweisbar ist und somit auch ausserhalb des Geländes, wo sie gelagert werden. War das einfach Unwissen, oder wusste der Mann, dass es falsch war, und hat bewusst gelogen?
WOZ: Die Aufbereitungsanlage im französischen La Hague präsentiert sich auf ihrer Website als weltweit führendes Unternehmen im Recycling gebrauchter Brennstäbe und als «Anlage ohne gesundheitliche Auswirkungen», deren radioaktive Emissionen hundertmal geringer seien als die natürliche Radioaktivität in Frankreich. Auch hier zeichnen Sie in Ihrem Buch ein deutlich anderes Bild.
Bruno Chareyron: In Wirklichkeit werden nur etwa 10 Prozent des Materials aus abgebrannten Brennelementen tatsächlich wiederverwendet – wir sind also weit entfernt von den behaupteten 96 Prozent. Was ebenfalls verschwiegen wird, ist, dass ein Teil dieses Recyclings überhaupt nicht in Frankreich stattfindet, da das Land nicht über die notwendige Technologie zur Wiederanreicherung des extrahierten Urans verfügt. Dazu wird es nach Russland geschickt, in eine Anlage in Sibirien, was geopolitische und Umweltfragen aufwirft.
WOZ: Wie steht es mit der Klimaerwärmung: Bedeutet sie ein zusätzliches Risiko für den sicheren Betrieb von Atomkraftwerken?
Bruno Chareyron: Ganz eindeutig. Atomkraftwerke brauchen ständig Wasser und Strom zur Kühlung der Brennelemente – und zwar noch Jahre nachdem sie abgeschaltet sind. Aber Trockenperioden und sinkende Pegel und auch die Erwärmung der Gewässer werden das zunehmend erschweren. Dazu kommen Überschwemmungen, Brände und Stürme. Die heutigen Anlagen sind nicht dafür ausgelegt, allen Extremereignissen standzuhalten. Und auch nicht für den sicheren Betrieb in Kriegssituationen. Die kriegsbedingten Notabschaltungen und die sicherheitstechnische Herabstufung des AKW Saporischschja in der Ukraine haben sehr deutlich gemacht: Wenn nicht fortwährend genügend Wasser und Elektrizität zur Verfügung stehen, um die Brennelemente eines Atomkraftwerks zu kühlen, besteht das Risiko einer Kernschmelze, wie sie 2011 in Fukushima geschah.
WOZ: Reaktoren der neuen Generation und auch die sogenannten kleinen modularen Reaktoren (SMR) gelten als sicherer.
Bruno Chareyron: Die Reaktoren der neuen Generation, wie der EPR (Europäischer Druckwasserreaktor), haben grosse Schwierigkeiten bei ihrer Entwicklung gezeigt, insbesondere in Bezug auf verzögerte Zeitrahmen und hohe Kosten. Das AKW Flamanville in Frankreich ist ein gutes Beispiel dafür: Technische Probleme und eine überstürzte Planung führten zu einem industriellen Fiasko. Bis heute funktioniert der EPR in Flamanville nicht einwandfrei. Was die SMRs betrifft, so sind sie noch weitgehend theoretisch, und es gibt keine Garantie, dass diese Reaktoren sicher und rentabel sind oder dass ein sicheres Management der Abfälle möglich ist. Bis heute sind das reine Versprechen, oftmals von Start-ups, die auf der Suche nach Kapital sind. Und selbst wenn alles gut geht, wären sie wahrscheinlich noch viele Jahre nicht einsatzbereit. Der Klimawandel erfordert aber sofort wirksame Lösungen.
WOZ: Wie kommen wir aus der Abhängigkeit von Atomkraft wieder raus?
Zuerst: Keine neuen Reaktoren mehr bauen. Schon der Umgang mit den bestehenden Anlagen ist eine Mammutaufgabe. Rückbau, gebrauchte Brennstäbe, Altlasten aus dem Bergbau – das alles ist teuer, gefährlich und ungelöst. Der einzige sinnvolle Weg ist, unseren Verbrauch zu senken, Gebäude zu dämmen, in Erneuerbare zu investieren: Solar, Wind, Biomasse, Geothermie. Diese Energien sind anpassbar, schnell verfügbar, sicher – und sie erzeugen keine hochradioaktiven Abfälle. Die Zukunft liegt dort, nicht in einer grün angestrichenen Technik von gestern.
Bruno Chareyron (60) ist Ingenieur für Energie- und Nukleartechnik und wissenschaftlicher Berater des unabhängigen französischen Strahlenforschungsinstituts Criirad. Eben ist sein Buch «Le nucléaire: une énergie vraiment sans danger?» im Verlag Dunod erschienen.