Literatur: Fürs Auge geschrieben

Nr. 47 –

Buchcover von «Wir sehen uns»
Jacqueline Moser: «Wir sehen uns». Roman. Edition 8. Zürich 2023. 128 Seiten. 33 Franken. 

Was passiert, wenn ein Wimmelbuch zum Leben erwacht? Die Geschichten, die Jacqueline Moser in ihrem neuen Roman erzählt, wirken wie eine Antwort auf diese Frage. Wie in ihren früheren Texten erweist sich die Basler Schriftstellerin auch hier als zurückhaltende, aber genaue Beobachterin des Alltäglichen. Während sie in «Lose Tage» und «Ich wünsche, wir begegneten uns neu» auf den jeweiligen Mikrokosmos der Hauptfiguren fokussierte, nimmt sie diesmal eine ganze Stadt in den Blick, die so zur heimlichen Protagonistin wird.

Zwar erzählt Moser in erster Linie von Menschen. Menschen, die sich begegnen, zur Arbeit fahren, sich scheiden lassen, Partys veranstalten, trauern oder einfach nur beim Bäcker einen Kuchen kaufen. Doch der eigentliche Charme der kurzen Szenen liegt darin, dass mit den Figuren konkrete Orte bespielt werden: der Claraplatz, die Mensa der Universitätsbibliothek, eine Baustelle beim Bahnhof, wo das «grösste Architekturbüro der Stadt» ein ikonisches Hochhaus baut, die Gegend um den Zoo Bachletten, wo nachts die Löwen brüllen, und das Rheinufer, das am Wochenende zur beliebten Promenade wird.

Die Orte sind bedeutend, weil sie zum Schauplatz von Begegnungen und Verflechtungen der Figuren werden, die in einer unsicheren Welt bei anderen Halt suchen. Die Assoziation zum Wimmelbuch liegt dabei auch am Stil: Moser schreibt fürs Auge. Sie protokolliert das sichtbare Geschehen, ohne zu sehr in ihre Figuren zu dringen. Nüchtern erzählt sie von alltäglichen Minidramen, die sich jederzeit auflösen, sich aber auch zu grossen Tragödien entwickeln könnten. Die zerrissene Einkaufstüte bekommt dabei dieselbe Aufmerksamkeit wie die zerrissene Familie. Moser entwirft so ein fragmentarisches Bild einer Stadt und ihrer Bewohner:innen im 21. Jahrhundert. Ohne das Geschehen in eine Richtung zu drängen, lädt sie ein, sich auf die Figuren und deren Geschichten einzulassen, die alle irgendwie miteinander verbunden sind. Das ist auch deshalb ein Vergnügen, weil die bewusst gesetzten Leerstellen die Fantasie beflügeln.

Die Autorin liest am Mittwoch, 29. November 2023, um 19 Uhr im Literaturhaus Basel.