Literatur: Arbeiten an der Grenze des Wahrnehmbaren
Auch in ihrem zweiten Roman, «Ich wünsche, wir begegneten uns neu», erweist sich die Basler Autorin Jacqueline Moser als nicht wertende, genaue Beobachterin.
Nach ihrem gelobten Debüt «Lose Tage» (2008) überzeugt Jacqueline Moser nun mit einem neuen Roman. Dass ihr Text auch diesmal wieder bei einem kleinen Verlag erscheint, stört sie nicht. Im Gegenteil: Es scheint für sie eher eine Auszeichnung zu sein. Als Leserin jedenfalls schätzt sie die originellen Programme unabhängiger HerausgeberInnen. Hier finde man unkonventionelle Texte, die nicht nach dem Durchlaufen eines Literaturinstituts, was man der Literatur oft anmerke, oder mit Blick auf den Buchmarkt geschrieben wurden. «Texte, die zu Leseerlebnissen werden können. Vielleicht sind das heute Nischenprodukte, an die sich nur noch kleine Verlage wagen.»
Und worum geht es ihr beim Schreiben? «Im ganz Kleinen das grosse Ganze erkennen. Wertfrei beobachten, um andere Perspektiven zu bekommen. Das ist schwierig. Wir sind immer schnell dabei, zu urteilen, einfache Zusammenhänge und Erklärungen zu finden. Dabei wissen wir meistens wenig.» Schon in «Lose Tage» wählt Moser eine nüchterne Erzählhaltung, beschreibt aber so sorgfältig und detailliert, als würde sie ihre ProtagonistInnen durch ein Mikroskop beobachten. Erzählt wird in «Lose Tage» die Kindheit von Carla und Adrian, die geprägt ist von der Abwesenheit der Mutter. Warum diese die Familie verlassen hat, wo sie lebt und wie sie aussieht, bleibt ein Geheimnis. Der Vater hat alles vernichtet und schweigt beharrlich, die Grossmutter beschränkt sich auf bissige Bemerkungen.
Trotzdem ist «Lose Tage» weder eine Anklage noch eine psychologische Diagnose. Neben dem Rätsel um die Mutter gibt es Freundschaften und Liebesbeziehungen, Haustiere und Hausaufgaben, Berufswünsche und Ferien in den Bergen. Eine ganz normale Kindheit eben. Oder sind Adrians zahlreiche Affären und Carlas Distanz zum Vater auf die abwesende Mutter zurückzuführen? Darüber zu entscheiden, liegt der Schriftstellerin fern.
«Ich habe dieses Thema damals gewählt, weil in meiner Jugend plötzlich viele Familien auseinandergebrochen sind. Darüber wollte ich nachdenken. Ich bin nicht sicher, was ich davon halte. Einerseits ist es ein Verlust, nicht mit beiden Elternteilen gross zu werden. Aber es kann auch eine Öffnung bedeuten, eine Einladung für Neues. Die traditionelle Familie kann auch etwas sehr Enges, Verschlossenes sein.»
Sich die nötige Zeit nehmen
In ihrem neuen Roman entwickelt sie die Kunst der objektiven Beobachtung konsequent weiter. Auch hier geht es um einen Verlust. Nach einem nicht näher erläuterten Vertrauensbruch und einem epileptischen Anfall hat Ella ihren Mann verlassen und ist mit ihrem Sohn in eine Siedlung am Stadtrand gezogen. In einer Umgebung, die ihr völlig fremd ist, versucht sie, über das traumatische Erlebnis hinwegzukommen. Sie schottet sich ab, will mit niemandem darüber sprechen. Anders als erwartet dient das Erzählen nicht der Aufklärung. Das Verdrängte wird nicht aufgearbeitet, es gibt keine dramatischen Wendepunkte oder Schlüsselerlebnisse. Stattdessen übt sich Ella in Geduld. Kreisen ihre Gedanken vorerst zwanghaft um den Verlust, so öffnet sie sich zunehmend den kleinen Ereignissen der Gegenwart: der ersten Primel im Garten, den Begegnungen mit den neuen Nachbarn.
«Ich habe mich gefragt, wie die Figur aus der Krise herausfinden kann, ohne Schaden anzurichten», so Moser. Inspiriert haben sie die weiblichen Figuren der klassischen Oper, deren Krisen als tragische Konflikte inszeniert werden, die erst in der Katastrophe ein Ende finden. Das gesuchte Gegenmodell fand sie im Buddhismus: «Da geht es viel ums Loslassen, um Selbstverantwortung, vor allem aber um das ‹tiefe Schauen›. Um eine Wahrnehmung, die nicht vom Intellekt bestimmt, sondern übers Gespür gesteuert wird. Denn intellektuell können wir uns ja alles zurechtbiegen.» Anders als Racheakte und Psychopharmaka braucht diese Form der Krisenbewältigung aber Zeit. «Normalerweise haben wir die im richtigen Leben nicht. An Ella wollte ich ausprobieren, was geschieht, wenn man sich die nötige Zeit für sich nehmen kann.»
Zufall statt finale Logik
Das Ergebnis dieses Experiments ist beeindruckend: Der Roman zeigt, was Literatur alles kann, wenn sie es wagt, die ausgetretenen Erzählpfade zu verlassen. Denn das «tiefe Schauen» beschreibt auch Mosers literarisches Verfahren. Ihre Romane folgen keiner finalen Logik. Sie entstehen aus der scheinbar zufälligen Reihung einzelner Episoden, die selten länger als eine Seite sind. Erst das Buch formt aus den einzelnen Erlebnissen und Erinnerungen eine Geschichte. Sicher habe ihre frühere Arbeit als Medizinlaborantin in der Zytogenetik diese Fähigkeit zur unvoreingenommenen Beobachtung geschult. «Die Zytogenetik erfordert einen sehr genauen Blick. Meist arbeitet man an der Grenze des Wahrnehmbaren.»
Ob sie sich für ein nächstes Projekt die Geschichte ihrer Familie vornimmt? Ihre Vorfahren sind in den vierziger Jahren aus einer deutschsprachigen Kolonie in Bessarabien zurück in die Schweiz geflohen. «Eigentlich dachte ich, das hätte nichts mit mir zu tun. Es ist so lange her. Doch je mehr ich darüber nachdenke, umso wichtiger scheint es mir, nachzufragen, bevor alle gestorben sind, die davon wissen.» Vor dem Hintergrund der inflationären Vermarktung konventionell aufbereiteter Migrationsgeschichten kann man sich nur wünschen, dass eine Autorin wie Moser sich des Themas annimmt: eine Autorin, der es gelingen könnte, Flucht und Vertreibung aus einer neuen Perspektive zu beleuchten und allzu simple Erzähl- und Erklärmuster zum Einsturz zu bringen.
Jacqueline Moser: Ich wünsche, wir begegneten uns neu. Roman. Bilgerverlag. Zürich 2016. 384 Seiten. 38 Franken