Theater: Der Concierge von Versailles

Nr. 38 –

Ein Stadttheater als Räterepublik? Der Walliser Mathieu Bertholet startet in Zürich in seine erste Spielzeit als Intendant am Theater Neumarkt.

Diesen Artikel hören (9:04)
-15
+15
-15
/
+15
Mathieu Bertholet in der Werkstätte des Theaters Neumarkt
Parat für die Bühne: Mathieu Bertholet in der Werkstätte des Theaters Neumarkt.

Mathieu Bertholet scheint sich wohlzufühlen in seiner neuen Heimat. «Viens, Nietzsche!», ruft er dem Basenji an der Leine zu, nachdem der am Zürcher Hirschenplatz ein paar Schlucke aus dem Brunnenvorsprung genommen hat. «Schon schön, die Altstadt, also das Niederdorf», fügt er mit einer ausladenden Kopfbewegung hinzu. Mit den Strassen um das Theater am Neumarkt hat sich der Walliser vertraut gemacht, was sich auch im neuen kommunikativen Auftritt ausdrückt, den das Theater in den letzten Wochen sukzessive ausrollte. So durfte sich jedes Mitglied des dreizehnköpfigen Ensembles mit einem eigenen Wappen ein Branding geben – eine Hommage an die Zünfte, die das kleinere der beiden Zürcher Stadttheater einst bewohnten. Die moderne Adaption der Frakturschrift soll zudem an die Froschauer-Bibel erinnern, deren Namensgeber unweit vom Neumarkt ansässig war.

«Ein Theater mit einem Ensemble ist mir das Wichtigste», erklärt Bertholet an einem warmen Augusttag auf einem Spaziergang zu seinem neuen Arbeitsplatz. Im deutschsprachigen Raum normal, ist das auf der anderen Seite des Röstigrabens eine Seltenheit. Theater sind dort wie in Frankreich eher Veranstaltungsorte und Koproduzenten für reisende Theatergruppen, die meist nur für eine Produktion an den Häusern residieren. Am Theater Poche/GVE in Genf schuf Bertholet über die letzten zehn Jahre eine der wenigen Ausnahmen. Der Vorteil eines festen Ensembles sei es, etwas vertiefen zu können, sagt Bertholet. Beobachten konnte er dies in den frühen nuller Jahren in Berlin, wo er Szenisches Schreiben an der Universität der Künste studierte und an der Volksbühne Frank Castorfs Bearbeitungen russischer Autoren besuchte – eine «super» Serie, in der man «Stück für Stück immer weiter ging».

Der Dramatiker, der, seit er Theater leitet, schon länger nicht mehr zum Schreiben kommt, bringt jetzt fast ausschliesslich zeitgenössische Texte nach Zürich – etwa von Rebekka Kricheldorf, die mit Bertholet in Berlin studierte, oder von Guillaume Poix, «noch keine vierzig, derzeit der Shootingstar in Frankreich». Ausgewählt hat Bertholet die Autor:innen zusammen mit zwei Dramaturginnen, die den deutschsprachigen Theaterraum gut kennen würden, sowie einer Regisseurin.

Eine programmatische Dra­maturgie, die mit dem Intendanten das Haus «von oben» programmiert, gibt es unter Bertholet nicht mehr. Dafür hat er verschiedene Räte eingeführt. Da ist der sogenannte Leserat, der die Texte auswählt und dem ab der zweiten Spielzeit Mitarbeiter:innen aus allen Bereichen des Hauses beiwohnen können. Hinzu kommt ein Ensemblerat, in dem die Spielenden mitentscheiden, was sie spielen und mit welchen Regisseur:innen sie zusammenarbeiten möchten (üblicherweise ist es andersherum). Über einen Zuschauer:innenrat wird zusätzlich der Dialog mit dem Publikum gesucht (Mitglieder zahlen für neun Generalproben inklusive Apéro hundert Franken).

Bitte kein Regietheater

Wie demokratisch es am Neumarkt künftig zugeht, muss sich zeigen. Dem Eindruck einer «Ein(white)mann-Intendanz», wie es in einer Pressemappe heisst, stellt sich Bertholet entgegen. Vor klaren Setzungen schreckt er deswegen nicht zurück. Als «Anfangssamen» für das Ensemble brachte er den Schauspieler Chady Abu-Nijmeh mit nach Zürich, mit dem er bereits in Genf zusammenarbeitete. Bei der Auswahl des Ensembles selbst habe er dann kein Stimmrecht gehabt – Bertholet besetzte lediglich die achtköpfige Jury, die unter den über siebzig eingeladenen Schauspieler:innen auswählte und in der auch Büros, Gewerke und Publikum vertreten gewesen seien.

Eine weitere Setzung: Zu Probenbeginn soll ein Text stehen. Denn wer sich nicht wie bei einer Stückentwicklung noch um Text und Dramaturgie kümmern müsse, erreiche eine höhere Entwicklungsstufe. Wie jemand mit Kontrollzwang wirkt er nicht. Auf dem Spielplan stehen auch Stücke, die er persönlich nicht gewollt habe, sagt Bertholet. «Mir ist klar, dass ich nicht immer recht habe», sagt er und untermauert dies mit einem Stück, das er beim Lesen nicht mochte, das ihm inszeniert aber so gut gefiel, dass er es aus Genf mit nach Zürich bringt. Auch für «diktatoriale» Regie soll kein Platz sein, sagt Bertholet: «Wir machen kein Regietheater. Der Regisseur kommt auch nur als ein Mitarbeiter ans Haus. Ich mag starke Regie, aber das kann man wirklich machen, ohne Schauspieler zu brechen.»

Seine erste Spielzeit eröffnet er «sehr bewusst» mit einer Inszenierung von Paula Lynn Breuer, die vor kurzem ihr Regiestudium an der Zürcher Hochschule der Künste abgeschlossen hat. Bertholet selbst wird erst im November bei «Gilberte de Courgenay» erstmals Regie führen. Den eigenen Stil beschreibt er als ein Theater, in dem Körper und Text gleichwertig sind. Im Schauspiel könne man nicht gleichzeitig Text, Psychologie und Körperlichkeit leisten – «das Erste, von dem ich möchte, dass sie es fallen lassen, ist die Psychologie. Die Deutungshoheit hat nicht der Schauspieler, sondern irgendetwas zwischen Bühne und Publikum.» Seine Rolle als Intendant versteht Bertholet ganz französisch als die eines Concierge. Allerdings eher der von Versailles als der eines kleinen Hotels: «Wenn Louis XIV plötzlich entscheidet, nach Versailles zu fahren, bin ich dafür zuständig, dass die Gärten im besten Zustand sind und die Küche betriebsbereit.» Publikum und Mitarbeitende sind König, oder so ähnlich.

Ein woker Konservativer?

Bertholet scheint ein modernes Theaterverständnis mit Traditionsbewusstsein zu verbinden. Immer wieder betont er die Rechte von Arbeitnehmer:innen. Überstunden – am Theater quasi Teil des Repertoires – seien nicht erwünscht. Genauso wenig wie die körperliche Belastung durch den ständigen Auf- und Abbau von Bühnenbildern in einem Theater mit nur kleinem Lift, der eher beim Abbau von Barrieren als von Bühnen hilft.

Das kann Makulatur sein – die öffentliche Würdigung der Leistungen des Personals hinter der Bühne hat unter Führungskräften im Theater Konjunktur (was nicht immer mit besseren Arbeitsbedingungen einhergeht). Doch wo oft leere Gesten herrschen, scheint sich Bertholet wirklich Gedanken zu machen: «Ich finde es cooler, wenn ein Schreiner an etwas schreinert, wovon er weiss, woher es kommt» – Aussagen wie diese sollen sich auch in den Strukturen niederschlagen, wie eben in den verschiedenen Räten. Komplizierte Fragen – wie theaterfremdes Publikum ins Theater bekommen? – klingen bei Bertholet einfach: Per Solidarmodell spendet das Publikum Theaterbesuche, die Vermittlung übernimmt dann das Theater, indem die Schauspieler:innen soziale Vereine besuchen und erklären, was auf der Bühne passiert, um die «Angst vor dem Theater» zu mindern.

Gleichzeitig scheint Bertholet im Vergleich zu seinen Vorgängerinnen Julia Reichert, Hayat Erdoğan und Tine Milz für ein traditionelleres Theaterverständnis zu stehen – etwa wenn es um die Rolle eines Stadttheaters geht. In einem Theater in der Deutschschweiz, sagt er, dürfe man durchaus die Erwartung hegen, dass Stücke auf Deutsch gespielt würden. Also die Leute nicht von vornherein vor den Kopf stossen, wie wenn sie für «Gilberte de Courgenay» kämen und eine Dragshow vorgesetzt bekämen: «Es ist cool, wenn man beides bekommt, aber man muss ‹Gilberte de Courgenay› schon wiederfinden können.»

Neben der Erfüllung einiger Erwartungen nimmt sich Bertholet vor, andere zu unterlaufen. Wer wie die Nachbarn im Niederdorf nur mit französischsprachigem Theater rechne, sei schnell beruhigt, wenn er auf Schweizerdeutsch antworte. «Ich bin mehr für das Und-und, nicht für das Entweder-oder», sagt er. Folglich lautet Bertholets Einladung an die Stadtbevölkerung: «Bienvenue daheim à Zürich!»

Die ersten Premieren: «Die Stille» (Text: Guillaume Poix, Regie: Paula Lynn Breuer), ab 22. September 2025. «Am Rand» (Text: Claudine Galea, Regie: Michèle Pralong), ab 13. Oktober 2025. «Ein nacktes Ohr» (Text: Rebekka Kricheldorf, Regie: Matthias Huser), ab 23. Oktober 2025.