Überleben im Frontgebiet: «Es wird keinen gerechten Frieden geben»
Die Region Cherson wurde vor drei Jahren von Russland eingenommen und annektiert. Manche Orte konnten befreit werden – und werden seit Monaten immer wieder angegriffen.

Am Anfang habe sie manchmal noch geglaubt, dass der Krieg bald enden werde, erzählt Julia Pogrebna, während der Van ihrer NGO über die unbefestigte Sandstrasse ruckelt, die die Oblaste Mykolajiw und Cherson verbindet. Doch nach mehr als drei Jahren habe sie für sich selbst entschieden, keine Erwartungen mehr zu haben, sagt die 34-Jährige. Sie bemühe sich, die positiven und schönen Dinge im Alltag noch immer zu sehen. Ihr Blick folgt drei Fasanen, die sich in den Büschen neben der Strasse verstecken. «Die Population der Fasane hat sich seit dem Krieg vergrössert, weil ein Jagdverbot eingeführt wurde», sagt sie. Wieder zieht an den Fenstern ein trostloses Dorf vorbei. Von den Häusern sind oft nur Steinruinen geblieben.
Julia Pogrebna, hellbraune glatte Haare, übergrosser Fleecepullover und schwarze Splitterschutzweste, leitet die in Odesa ansässige Organisation New Dawn. Der Name bedeutet so viel wie «ein neuer Morgen», «Neuanfang». «Denn nach dem Regen kommt die Sonne», sagt Pogrebna, während sie weiter in Richtung Dnipro fährt. Der Fluss markiert schon seit Jahren die Front. Doch die Zeit, in der sich die Düsternis zu lichten schien, liegt lange zurück. Im ersten Kriegsjahr war die Region Cherson beinahe vollumfänglich von den russischen Truppen besetzt worden – bis die Gebiete am rechten Ufer des Dnipro mit der ukrainischen Gegenoffensive im Herbst 2022 befreit werden konnten.
Pogrebna erzählt von der Freude und der Euphorie, die damals unter den Menschen herrschten, von der Hoffnung darauf, dass von nun an alles besser werde. «Damals bewegten wir uns mit dem Frontverlauf mit», sagt sie. Ihr Team verteilte Essen und Medikamente, nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Jahr 2023 wurden Brunnen gebohrt, Wassertürme installiert und Schutzkeller gebaut. Von den über 150 000 Menschen, die im von der Ukraine kontrollierten Teil des Oblasts Cherson leben, sind laut offiziellen Zahlen ein Drittel ältere Menschen. Trotz der Gefahr, so Pogrebna, kehrten mittlerweile viele Menschen wieder in diese Gegend zurück, die täglich von den russischen Truppen angegriffen werde.
«Das Bedürfnis, in ihrer gewohnten Umgebung zu sein, entspricht ihrer Mentalität», erklärt Pogrebna. «Niemand hatte damit gerechnet, dass der Krieg mehr als drei Jahre dauert.» Dazu kommt, dass die Regierung seit 2024 die Zahlungen an die ungefähr fünf Millionen Binnengeflüchteten im Land schrittweise zurückgefahren hat – auch um die Beschäftigungsrate unter ihnen in die Höhe zu treiben, wie es heisst. Priorität haben nun Familien mit Kindern und Menschen mit Behinderungen. Die meisten älteren Geflüchteten können sich das Leben in den grossen Städten nicht leisten und rutschen in die Armut ab. «Dass die Menschen hier auf den Feldern wieder Samen aussäen, könnte man auch so interpretieren, dass sie daran glauben, dass es im Herbst eine Ernte geben wird», sagt Pogrebna, während der Wagen in Wysoke, fünfzehn Kilometer Luftlinie von der Front entfernt, zum Stehen kommt.
Schwindende Perspektiven
Mykola Jazenko, der 49-jährige Leiter der hiesigen Militärverwaltung, bittet in seine Büroräume im Keller eines Hauses, dessen obere Stockwerke durch Drohnen und Gleitbomben teilweise zerstört wurden. Sein Team habe aufgrund der Angriffe in den letzten Monaten bereits dreimal umziehen müssen, sagt Jazenko, während er durch einen mit Brennholz beheizten Gang führt und die Tür zu einem Raum ohne Tageslicht öffnet, in dem drei Schreibtische stehen. An den Wänden kleben Sticker mit glitzernden Blumen und Schmetterlingen, selbstgemalte Bilder von Sonnenblumenfeldern, ukrainische Flaggen. «Wir versuchen, alles dafür zu tun, dass unsere Laune nicht noch schlechter wird», sagt Jazenko, der bis vor kurzem noch selbst im Donbas kämpfte und eine Panzerkompanie kommandierte.

«Die Bevölkerung wünscht sich Frieden; aber sie hat kaum Perspektiven, wenn sich die demokratische Welt von ihr abwendet.» Und wer mit der militärischen Lage vertraut sei, wisse, dass ein Abkommen mit Wladimir Putin wertlos sei. In einem Scheinreferendum hat Russland Cherson 2022 gemeinsam mit den Oblasten Luhansk, Donezk und Saporischschja illegal annektiert. In künftigen Verhandlungen – so die Angst auf ukrainischer Seite – könnte es auch um Gebiete gehen, die derzeit gar nicht von Russland kontrolliert werden. «Russlands Plan ist es, die gesamte Ukraine einzunehmen», sagt Jazenko. «Eine vorübergehende Waffenruhe könnte noch schlimmer sein für uns, weil sich die Angreifer dann neu vorbereiten können.»
Kurz nach dem dritten Jahrestag der russischen Invasion, nun, da sich die USA, der wichtigste Verbündete des Landes, immer mehr an Russland annähern, zeigen sich die Menschen nahe der Front besonders kriegsmüde. Doch die Hoffnung, dass die Kämpfe bald enden könnten, fehlt. In manchen Cafés in der Stadt Mykolajiw werden Russ:innen mit Stickern an der Eingangstür beschimpft. Die papierenen Tischsets, die schon seit Jahren verwendet werden, tragen ein aufgedrucktes Würfelspiel mit Spielkästchen. Das letzte zeigt eine Zeichnung des russischen Diktators, der sich selbst erschiesst. Darüber das Wort «Putler» – eine Kombination der Namen Putin und Hitler. Ansonsten aber sind die ukrainischen Kampfansagen aus dem ersten Kriegsjahr weitgehend verstummt. Damals träumte man noch von einer Rückeroberung der Halbinsel Krim, deren Annexion sich dieser Tage zum elften Mal jährt. Stattdessen haben Putin und Trump Gespräche begonnen und sich neben der Ukraine über die Idee für ein amerikanisch-russisches Eishockeyspiel unterhalten.
Gejagte Menschen
Soldaten, die schon seit Kriegsbeginn im Einsatz sind – und deren Familien sich aufgrund der ständigen Gefahr im Ausland befinden –, wissen nach wie vor nicht, wann sie nach Hause zurückkehren können. «Ich verstehe, dass Trump unberechenbar ist. Heute sagt er das eine, morgen das andere»: Der 44-jährige Mykola, der für die Zeitung nur seinen Vornamen nennen will, kämpft bei der Luftabwehr. Die Moral in seiner Truppe, die nahe der Front im Gebiet von Cherson operiert, sei immer noch gut – das sagen Mykola und seine Kameraden mit müdem Blick und fast so, als hätten sie den Satz schon zigmal vor Presseleuten runtergerattert. Zur Situation in Kursk dürften sie sich nicht äussern, sagen die Soldaten – sie seien für diesen Frontabschnitt im Süden zuständig, nicht für den Norden.

«Ich verfolge die Nachrichten mittlerweile ohne Emotionen», sagt Mykola. Er zeigt eine schultergestützte Flugabwehrrakete des US-amerikanischen Typs Stinger. Die russischen Drohnenangriffe hätten in diesem Jahr stark zugenommen, sich sogar mehr als verdoppelt: «Wenn ich nicht treffe, bedeutet das für andere Menschen Tod und Zerstörung.» In der Stadt Cherson sprechen die Bewohner:innen von einer regelrechten Menschenjagd, die die russischen Angreifer mit Kampfdrohnen auf Zivilist:innen veranstalten. Als Soldat habe er Angst, dass die Menschen vor Ort erneut unter russische Besatzung geraten könnten. «Und Trump glaubt», so Mykola, «dass das alles sehr einfach ist. Dass wir ein Abkommen unterschreiben und dann alles gut ist.» Vor der Invasion lebte er in der Region Dnipropetrowsk, wo die Front wegen russischer Geländegewinne im angrenzenden Donbas immer näher kommt.
Eingefrorene Gelder
Mittlerweile stellt sich bei vielen Menschen in der Ukraine das Gefühl ein, auf sich allein gestellt zu sein. Ob dieser Prozess mit der Ankündigung begann, dass die finanziellen Mittel der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) eingefroren werden, oder nach dem jahrelangen Zögern der europäischen Staaten, lässt sich schwer beurteilen. «Vielen ist nicht bewusst, dass USAID dafür gesorgt hat, dass unsere Energieinfrastruktur nach den Angriffen repariert wurde», sagt Julia Pogrebna. In ihrer Heimatstadt Odesa, die immer wieder unter Stromausfällen gelitten hat, könnten sich die langfristigen Auswirkungen der ausbleibenden Hilfsgelder erst noch bemerkbar machen.
Ihre NGO sei von den Kürzungen bei USAID nicht direkt betroffen, sagt Pogrebna. Uno-Organisationen bauten deshalb inzwischen auch in der Ukraine Stellen ab. «Weil die grössten Akteure zum Teil sogar ihre Arbeit ganz einstellen, wächst der Druck auf kleinere wie uns.» In einigen Dörfern gibt es seit drei Jahren keinen Strom. «Der Hilfsbedarf wächst, aber die Mittel werden gekürzt», sagt sie, während sie den Van durch Dörfer lenkt, vorbei an aus Spanplatten und Plastikplanen gezimmerten Hütten für Binnengeflüchtete. Der Wind treibt Sand und Erde durch die Luft und über die weite Steppe. Aus umkämpften Dörfern gerettete Hunde jagen den Autos nach.
Vor dem Krieg war das Fahren noch Männersache. Doch auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen werden häufig bei Kontrollen einberufen. Männliche Fahrer seien deshalb schwer zu finden. «Es ist heute nötig, dass wir Frauen alles selbst machen können», sagt Pogrebna. «Und das bedeutet einen grossen Druck: Frauen sind von der Mobilisierung zwar nicht direkt betroffen, aber die Arbeit hier in der Nähe der Front ist gefährlich. Sie müssen Geld verdienen. Und wenn sie Kinder haben, oft alleine für diese sorgen.»
«Wir überleben hier von Tag zu Tag», sagt Julia Pogrebna. «Aber wir wissen, dass es mit Trump keinen gerechten Frieden für uns geben wird.»
