Krieg gegen die Ukraine: Von einem Tag zum nächsten

Nr. 23 –

Zur Verteidigung der Region Charkiw haben westliche Länder der Ukraine erlaubt, von ihnen gelieferte Waffen gegen Ziele in Russland einzusetzen. Die entscheidenden Kämpfe finden aber nach wie vor im Donbas statt. Ein Besuch nahe der Front.

Oleksandr Remez singt für eine ukrainische Einheit in einer improvisierten Unterkunft im Oblast Donezk
«Manchmal, wenn wir anfangen zu spielen, sind die Soldaten so traurig, und es ist schwer, sie zu erreichen»: Oleksandr Remez singt für eine ukrainische Einheit im Oblast Donezk. 

In den Ruinen der Häuser wachsen junge Bäume, die verwilderten Rosen in den Gärten bieten in dieser Gegend der Zerstörung die einzige Pause fürs Auge. Die Ortschaft im Oblast Donezk, die zum Schutz der Soldaten nicht genannt werden soll, befindet sich nahe der Front. Und wenngleich sich hier keine Strassenkämpfe abspielten, fühle sich niemand sicher, sagt Konstantin Rybaruk. «Die einzige Stabilität hier ist der Krieg», so der dreissigjährige Soldat, Bart, dunkle Schatten unter den Augen. Noch vor wenigen Stunden hatte er in den nahe gelegenen Stellungen seines vierköpfigen Mörsertrupps ausgeharrt. Als Kommandant muss er dafür sorgen, dass der Mörser in die richtige Richtung schiesst. Nun führt er in Schlappen, kurzen Hosen und T-Shirt mit Militärprint durch die Räume der vorübergehenden Unterkunft.

Die Männer der Bureviy-Brigade erholen sich in einem von seinen Besitzer:innen verlassenen Wohnhaus mit kitschigen Tapeten und Regalen voller Einmachgläser. In der Küche rumoren die Waschmaschine und der Wasserkocher für den Tee, während draussen die Artillerie donnert. An der Garderobe hängen ordentlich aufgereiht Jacken, Fleecepullover und Baseballkappen in Camouflage. Rybaruk will das Gespräch an diesem sommerlich-warmen Tag lieber draussen führen und lädt auf die Terrasse, wo unter einem Tarnnetz Gartenmöbel und ein Holztisch stehen. Weiter hinten lehnt am Schuppen sein wichtigster Besitz: ein in die Jahre gekommenes blaues Mountainbike. Immer wieder aufs Neue erinnert es ihn daran, dass es ein Leben ohne die Kämpfe gibt und irgendwann vielleicht wieder geben wird.

Zerstörte Stellungen

Vor Beginn der russischen Invasion, in seinem zivilen Leben, hat Radprofi Rybaruk in seiner Heimatstadt Tscherkassy in der Zentralukraine den Nachwuchs trainiert. 2016 nahm er an Wettkämpfen in Frankreich und Italien teil, ein Jahr später in Norwegen. Rybaruk gerät ins Schwärmen, wenn er daran zurückdenkt. «Ein Fehler kann dich ein Rennen kosten, ein Rennen wiederum kann aus zehn Runden bestehen, und in jeder Runde musst du fünfzig Kurven meistern», erinnert er sich. Wie viele Runden er in diesem Krieg bereits zurückgelegt hat, weiss niemand. Seit mehr als zwei Jahren kämpft Rybaruk bereits an der Front – zunächst nördlich von Kyjiw, seit einem halben Jahr im Donbas. Vor acht Monaten ist sein Sohn auf die Welt gekommen, seither hat er bloss zwölf Tage mit ihm verbracht. «Wenn ich 23 Jahre alt wäre und keine Familie hätte, würde ich sagen, das hier ist eine Art Disneyland für einen Soldaten. Wenn du deinen Job liebst, fühlst du dich in Hochstimmung», sagt er. «Aber wenn man eine Familie hat, kommt man ins Nachdenken.»

An der Front zu kämpfen, bedeutet, sich von einem Tag zum nächsten zu hangeln. In den Stellungen komme man nur manchmal zum Schlafen, könne von Glück sprechen, wenn das abseits geparkte Auto nach dem üblicherweise viertägigen Einsatz in den Unterständen noch heil sei, sagt Rybaruk. «Manchmal kommen wir aus den Schützengräben, und das Auto ist kaputt. Oder noch schlimmer: Unsere Stellung wird zerstört.» Die Verzögerungen bei den Waffenlieferungen in den vergangenen Monaten haben sich auch auf die Arbeit von Rybaruk ausgewirkt.

«Es gab Momente, da hatten wir keine Munition», sagt er. Mittlerweile habe sich die Versorgungslage verbessert. Doch noch immer rückten zu wenige Soldaten nach. Rybaruk findet, dass sowohl die Rekrutierungszentren als auch die Politik grosse Fehler gemacht hätten. «Am 24. Februar 2022 standen die Leute vor den Zentren Schlange und wurden wieder nach Hause geschickt, jetzt will niemand mehr kämpfen. Deshalb wird es keine Demobilisierung geben.» Er macht eine Pause. «In Wirklichkeit ist der Feind stärker. Sie sind uns in allem überlegen. Wir sind immer in der Defensive.»

Vier, fünf Stunden Schlaf

Dafür, dass der Trupp die richtigen Koordinaten für die Ziele erhält, sorgt eine halbe Autostunde entfernt eine gesonderte Einheit der Brigade. Sie überwacht die Kommunikation der russischen Truppen, dechiffriert feindliche Codes und Signale. In den Kiefernwäldern, durch die eine sandige Strasse führt, kokelt an diesem Tag Ende Mai noch das Holz umgefallener Bäume, die Stunden zuvor durch einen Einschlag Feuer gefangen haben. Wie in einem IT-Büro sitzen Soldaten im Keller eines Wohnhauses vor Monitoren, manche in Gamersesseln, das Klicken von Tastaturen und Computermäusen erfüllt den verrauchten Raum. Auf den Tischen stehen Aschenbecher sowie Energydrinks mit Aufschriften wie «Burn» oder «Non Stop».

«Wir schlafen vier, fünf Stunden», sagt ein 37-jähriger Soldat, der sich als Mikhass vorstellt. Weil er den ganzen Tag sitzend verbringt, will er beim Interview lieber stehen. «Wir sind viel zu wenige hier», sagt er. Auch deshalb bekommen die Männer, die hier Tag und Nacht Kommunikation und Bewegungen der feindlichen Truppen überwachen und melden, die Sonne kaum zu Gesicht. Mikhass ist davon überzeugt, dass sich alle Männer im Land mit der Vorstellung abfinden sollten, dass sie irgendwann kämpfen müssten. «Wir können nicht demobilisieren, wenn nicht klar ist, ob jemand nachkommen wird. Wir werden warten müssen, bis der Krieg vorbei ist», glaubt er.

Vor dem 24. Februar 2022 hat Mikhass in Kyjiw als Programmierer gearbeitet, Spezialisten aus dieser Branche brauche die Armee dringend, sagt er. Die Aufgaben der Männer reichen von der Suche nach Frequenzen und Signalen bis zum Abhören des Funkverkehrs. Der Blick richtet sich dabei auf einen kleinen Abschnitt der mehr als tausend Kilometer langen Front; durch die Offensive, die Russland Mitte Mai an der Grenze zu Charkiw gestartet hat, ist sie noch einmal gewachsen. Doch das, was im benachbarten Oblast passiert, liegt für die Soldaten der Brigade hier in weiter Ferne. Die russischen Angriffe im Donbas kommen noch immer vorwiegend aus den besetzten Gebieten, die völkerrechtlich zur Ukraine gehören. «Wir wissen im Grunde mehr über die Pläne des Feindes als über unsere eigenen. Aber wenn wir mit der Infanterie gut zusammenarbeiten, dann profitieren wir alle davon», sagt Mikhass. «Auch die stärksten Waffen sind nutzlos, wenn die Einheiten an der Front nicht wissen, wo und wann sie sie einsetzen sollen.»

Ressourcen und Zeit

Wieder einmal befindet sich der Krieg in einer entscheidenden Phase. Ende Mai kam die aus ukrainischer Sicht lang erhoffte Haltungsänderung: Viele Länder stimmten dem Einsatz westlicher Waffensysteme gegen Ziele in Russland zur Verteidigung von Charkiw zu. Den jüngsten Kurswechsel bewirkt haben in erster Linie die USA, aber auch Deutschland, Frankreich und andere europäische Partner. Bereits wenige Tage nach der Ankündigung tauchten in den sozialen Medien erste Fotos und Videos von angeblichen Treffern auf russischem Gebiet auf.

«Ein messbarer Erfolg wäre, wenn es nächste Woche nicht zu einer neuen Offensive kommt», sagt Militärexperte Markus Reisner, Oberst beim österreichischen Heer. «Hinzu kommt allerdings, dass die gleichen Waffensysteme, die vor Monaten noch sehr erfolgreich waren, Himars-Raketenwerfer etwa, jetzt nicht mehr diese hohe Erfolgsrate aufweisen, weil die Russen erkannt haben, wie sie diese Systeme stören können.» Durch die Eskalation in der Region Charkiw, wo die russischen Truppen einige Dörfer eingenommen haben, die sie schon 2022 besetzt hatten und die die ukrainische Armee noch im selben Jahr befreien konnte, hat Russland den militärischen Druck weiter erhöht. «Auch wenn die Ansammlung der russischen Truppen nicht reicht, um eine Grossstadt wie Charkiw einzunehmen, muss die Ukraine darauf reagieren, Kräfte aus anderen Regionen abziehen und die eigenen kostbaren Reserven einsetzen – und kann dadurch kaum die Initiative zurückgewinnen», so Reisner.

Das Gleiche könnte in den nächsten Wochen auch im Oblast Sumy nördlich von Kyjiw passieren, der ebenfalls eine Grenze mit Russland teilt. Eine der wichtigsten Schlachten findet allerdings nach wie vor im Donbas statt: Eine Einnahme der Stadt Tschassiw Jar bei Bachmut würde den russischen Truppen Vorstösse in verschiedene Richtungen ermöglichen – und bedeuten, dass nahe gelegene Städte wie Kostjantyniwka, Kramatorsk und Slowjansk an die vorderste Front rücken. Gleichzeitig greift Russland mit massiven Luftkampagnen regelmässig die kritische Infrastruktur des Landes an. Seit Mai gehören deshalb auch in Kyjiw geplante Stromabschaltungen zum Alltag. «Die Angriffe machen es schwierig, den eigenen militärischen Industriekomplex zu betreuen, Rüstungsgüter zu produzieren und die Bevölkerung zu versorgen», sagt Reisner. In diesem Abnutzungskrieg gehe es um Ressourcen und den Faktor Zeit.

Auch traurige Gefühle zulassen

An ihrem freien Tag versammeln sich Konstantin Rybaruk und zwei Dutzend weitere Soldaten im Oblast Donezk in einem benachbarten Haus. An diesem Tag soll ein Konzert die Stimmung heben. In Hufeisenform setzen sich die Männer auf die alten Couches. Der Eingang ist mit einem schwarzen Tuch verhängt, an den Wänden daneben kleben bunte Kinderzeichnungen. Manche der Männer wirken müde, einige starren apathisch auf den Betonboden. Werden sie nach dem Befinden gefragt, sagen die meisten, dass alles «normalno» sei – alles in Ordnung. Im Sommer lasse sich ohnehin alles leichter aushalten. Ein Soldat erzählt, er könne sich an sein Leben vor dem Krieg nicht mehr erinnern, als er in Kyjiw als Koch gearbeitet habe. Ein anderer berichtet, er sei vor kurzem ins Zimmer eines gefallenen Kameraden gezogen. Die fehlende Perspektive, dass kein Ende ihres Einsatzes in Sicht ist, nagt an allen.

Mit einem Tourbus kommen die Mitglieder der «Kulturkräfte» an. Die Einheit unterstützt die Armee, indem sie Konzerte und Kulturabende für die Brigaden im Einsatz organisiert und Spenden sammelt. Energiegeladen betreten sie den Raum, bereiten ihre Instrumente vor und beginnen, selbstgeschriebene Lieder zu spielen. Inmitten der sitzenden Soldaten baut sich Oleksandr Remez auf, der vor dem Krieg hauptberuflich Musiker war und im Donbas durch eine Mine verletzt wurde. Er nimmt seine Gitarre in die Hand und singt Lieder von der Liebe und gefallenen Kameraden. Eine der beiden Frauen aus der Band versucht, die Männer zum Tanzen zu motivieren, sie klatscht in die Hände, zieht schliesslich einen von ihnen in die Mitte. Unter dem Grölen der anderen drehen sich die beiden im Kreis.

«Unser Ziel ist es, dass die Soldaten ihre Gefühle zulassen, deshalb spielen wir auch traurige Lieder», sagt der 39-jährige Remez. Im Vergleich zu anderen Einheiten seien die Leute in dieser gut drauf gewesen. «Manchmal, wenn wir anfangen zu spielen, sind sie so traurig oder haben diese wilden Augen, wie Leute, die aus dem Wald kommen, und es ist schwer, sie zu erreichen.» Die grösste Belohnung sei es, wenn ein Strahlen in die Augen zurückkehre. Am Ende verteilen die Musiker:innen Fragebögen, auf denen die Soldaten anonym angeben sollen, wie sich ihre Stimmung durch das Konzert verändert hat. «Unsere Armee ist noch immer sehr bürokratisch», sagt Remez. «Es ist besser, wenn wir unserem Kommandanten schwarz auf weiss zeigen können, dass wir gute Resultate erzielen.»

Gerade als sich die Stimmung der Anwesenden nach dem Konzert etwas gelockert hat und man sich vor dem Haus unterhält und raucht, gibt es einen Kilometer entfernt einen Einschlag, vermutlich eine Gleitbombe. «Auf den Boden», ruft einer der Männer, während die Soldaten in Deckung gehen, zu ihren Autos rennen und innerhalb weniger Sekunden in verschiedene Richtungen davonfahren. Im Hintergrund steigt über einem Wohnhaus Rauch auf. Für Verabschiedungen bleibt keine Zeit.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen