Roman Signer: Kunst ohne Stützwände

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Nur einen Steinwurf vom Kunsthaus Zürich entfernt ist auf dem Trottoir ein Gullydeckel geöffnet, zwei Schläuche führen in das schwarze Loch. Für einen kurzen Moment glaubt man, hier manifestiere sich bereits das erste Werk von Roman Signer. Wird da gleich Wasser reingepumpt, bis dass das Trottoir nachgibt? Natürlich nicht. Dabei sind gerade solche subtile Alltagsirritationen typisch für den 86-jährigen St. Galler Aktionskünstler, der uns zeigt, dass aus dem Gewöhnlichen jederzeit das Unerwartete hervorbrechen könnte. Es klingt abgedroschen, ist aber so: Wer Roman Signer im Kopf hat, sieht die Welt mit anderen Augen.

Das erste Werk begegnet einem dann tatsächlich noch vor dem Kunsthaus Zürich, wo heute im grossen Saal die Ausstellung «Landschaft» eröffnet wurde. Draussen auf dem Platz steht eine Ape, die Roman Signer auch mal fliegen oder kentern liess und die nun als Brunnen dient. Der sonst oft hermetisch verbaute Ausstellungsraum wird zur offenen Landschaft, in der Werke aus fünfzig Jahren gezeigt werden. Stützwände braucht Signers Kunst sowieso nicht: Sie hängt an Seilen, bewegt sich unter Luftdruck oder schwimmt im Planschbecken.

Signer zählt zu den bekanntesten und beliebtesten Schweizer Künstler:innen. Das war nicht immer so. Besonders in seiner Heimat, der Ostschweiz, gab es wiederholt zähe Diskussionen über den Kunststatus seiner Werke. Als er Ende der achtziger Jahre den «Wasserturm» – ein rotes Fass auf Stelzen, aus dem ein Wasserstrahl spritzt – in St. Gallen aufstellte, entbrannten heftige Debatten darüber, ob sich sein Werk erlaube, auf das Publikum zu «pissen». Dabei wäre es viel zu einfach, Signer als Provokateur und Spassmacher abzutun. Auch wenn er den einen oder anderen Familienvater in den neunziger Jahren inspiriert hat, im Wald Osterhasen mit Schwarzpulver zu sprengen (etwa den der Autorin).

Die Medienkonferenz zur Ausstellung beginnt denn auch mit Signers indirekter Bitte, auf sensationelle Begriffe wie «Knall» oder «Explosion» in den Berichten zu verzichten. Sonst sagt er nichts. Es ist seine Vertraute, die Kuratorin Mirjam Varadinis, die die Ausstellung vorstellt.

Signers Kunst braucht vor allem eins: Zeit. In der Kantonsschule in Trogen installierte er 1991 ein Kanu, das sich seither über ein Drahtseil und Umlenkrollen parallel zur 100-Meter-Rennstrecke auf dem Sportplatz täglich 27 Zentimeter bewegt – ein Jahr lang braucht es für die Strecke. Und auch in der Ausstellung «Landschaft» geht das Gezeigte oft über die Gegenwart hinaus. Schmauchspuren an einem Holzhäuschen erzählen von einer rasanten Abfahrt auf der Skipiste und bei einer Pistole, deren Lauf in einem langen, gekrümmten Eisenrohr steckt, folgt der – jetzt muss es doch sein – Knall in Gedanken. Der Audioguide erklärt die Geschichten hinter den Objekten. Doch das ist nicht nötig. Denn was heute so ist, sieht morgen womöglich anders aus. Und darin liegt eine anziehende, subversive Kraft. Klar wird das auch beim einzigen Raum im Raum: ein Kubus, in seinem Inneren ein festlich geschmückter Tannenbaum. Heute Abend bringt Roman Signer ihn zum Rotieren, der Schmuck wird abfallen, Kugeln zerbersten. Und morgen wird einzig das Statische auf die Bewegung der Vergangenheit hindeuten: mehrere Besuche sind also dringend empfohlen.