Kader Attia: Die Kunst der vernarbten Zonen

Nr. 39 –

Reparaturen und sichtbare Nähte: Der algerisch-französische Künstler Kader Attia zeigt im Kunsthaus Zürich, wie man an koloniale Gewalt erinnern kann, ohne darüber die Zukunft zu vergessen.

«Sieht aus wie ein Picasso!» – so kommentierte ein französischer Kunstsammler vor noch nicht allzu langer Zeit ein Kunstwerk aus Kamerun. Dass es ihm nicht mal in den Sinn kam, dass die Wahrheit genau umgekehrt liegt, ist einer der Ausgangspunkte für die Kunst von Kader Attia, geboren 1970 als Sohn algerischer Eltern, aufgewachsen im Norden von Paris und in Algerien.

Ein ganzer Kontinent diente über Jahrhunderte als Selbstbedienungsladen: für koloniale Kriegszüge, Missionare und andere Kunstdiebe, die manche Schatzkammer europäischer Museen mit geraubten Kunstwerken und Kultgegenständen füllten. Afrikanische Artefakte waren aber auch im immateriellen Sinn eine wichtige Inspirationsquelle für die europäische Moderne – oft ohne Quellenangabe.

Seit Jahrzehnten ist nun eine künstlerische Rückeroberung im Gang. Oder wie es Kader Attia im Podiumsgespräch in Zürich beschreibt, wo er auch die Picasso-Anekdote erzählt: Es gilt, neue Geschichten auszudenken, um sich die verschleppte und zweckentfremdete Kunst, aber auch die gestohlene Geschichte wieder neu anzueignen. So entsteht ein Werk, das an Raub und koloniale Gewalt erinnert, gleichzeitig das über Jahre angesammelte Wissen der Gegenwart mit einfliessen lässt – und das vor allem die eigene kreative Kraft aus den mächtigen Schatten der alten Gewalt treten lässt.

In der Brandruine

«Remembering the Future», die neue Ausstellung von Attia im Kunsthaus Zürich, ist reich an derlei Rückeroberungen. Da gibt es Collagen, in denen sich etwa Le Corbusier, als einflussreichster Architekt der Moderne, interessiert nach alten islamischen Lehmbauten umdreht. Doch am eindrücklichsten ist ein wuchtiges Modell im hinteren Teil dieses ersten Raums: Es ist die verblüffend originalgetreue Rekonstruktion des bekannten «Hôtel de l’indépendance» in Dakar, nachgebaut aus metallenen alten Karteikästen der französischen Kolonialpolizei. Virtuos gestapelte Archivhohlräume werden so zu formgenauen, aber unwirtlichen Hotelzimmern. Die einst darin gelagerten Fichen über die algerischen WiderstandskämpferInnen sind weg, das stolze Haus der Unabhängigkeit sieht aus wie eine von vergangenem Unrecht ausgehöhlte Brandruine.

Leicht macht es uns Kader Attia nicht. Vor allem verlangt einem die Ausstellung Zeit ab, mit ihren vielen langen Videos. Belohnt wird man nicht zuletzt mit beiläufigen Aperçus: der auf Rückerstattungsrecht spezialisierte Anwalt, der während des Interviews eine kleine Skulptur krampfhaft umklammert wie ein Kind sein Lieblingsspielzeug, das es nie mehr hergeben möchte; oder die Titel in der Bücherwand hinter dem Schriftsteller und Ökonomen Felwine Sarr, der 2018 zusammen mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy im Auftrag von Präsident Emmanuel Macron einen viel beachteten Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter vorgelegt hat.

Je tiefer man eintaucht, desto feiner offenbart sich das Netz der Verstrickungen, aber auch der rettenden Gedanken. Eine weitere Skulpturenreihe trägt im Titel eine kühne Definition von Kultur als einer «geflickten Natur». Attia hat Fotos von verletzten Soldaten des Ersten Weltkriegs gesammelt und deren versehrte Gesichter dann von senegalesischen Kunsthandwerkern in Holz hauen lassen (vgl. «Eine Flucht nach vorn …» im Anschluss an diesen Text). Das ist auch eine Art Reparatur – und dazu ein komplexer transkolonialer Zeichenverkehr, gerade auch vor dem Hintergrund der vergessenen toten Weltkriegssoldaten aus den Kolonien.

Mahnwache im Echoraum

Reparatur ist auch Thema im neu geschaffenen Hauptwerk der Ausstellung, einem mit Kopien afrikanischer Kultobjekte vollgestellten Projektionsraum. Die Köpfe und Statuen werfen ihre schwarzen Schatten auf die Leinwand. Die Projektion wiederum, auf der verschiedene ExpertInnen – Historikerinnen, Psychoanalytiker und Philosophinnen – über Restitution, Ökonomien und Objektbeziehungen sprechen, überzieht die Artefakte mit einem unheimlichen Flackern. Eine Magie zweiter Ordnung entfaltet sich. Die Talking Heads im Video verleihen dieser stummen Mahnwache nachgebauter Kultgegenstände einen neuen Echoraum in der Gegenwart.

In einem weiteren Raum werden die farbig gekitteten Bruchstellen kunstvoll gemusterter Keramiken zum eigentlichen Blickfang: eine offensive Politik der sichtbaren Nähte. Die Reparatur erinnert hier an das Unheil und will es keineswegs zum Verschwinden bringen. Das zeigt sich bei Kader Attia auch, brandaktuell, in den Fotografien der zerschlagenen Visagen von DemonstrantInnen, die diese als Mahnmale gegen Polizeigewalt ins Netz gestellt haben.

Und dann ist da noch das Paradox im Ausstellungstitel: «Die Zukunft erinnern». Heisst das, die Zukunft ist bereits vergangen? Oder doch hoffnungsfroher: Vergessen wir die Zukunft nicht? Was uns zur ständigen Anstrengung verpflichtet, die Gegenwart zurechtzurücken – ohne die historischen Spuren zu verwischen, und doch so, dass eine Zukunft lebbar wird. Das erinnert wiederum an das unabhängige Kulturzentrum, das Kader Attia in Paris mitgegründet hat und das nach coronabedingter Schliessung bald wiedereröffnet werden soll. La Colonie heisst dieser Treffpunkt und Debattenraum, er trägt also auch eine sichtbare Naht im Namen, die sagt: Es gibt zwar keine Kolonien mehr, und doch sind wir noch lange nicht fertig mit dieser Geschichte.

Kader Attias «Remembering the Future» ist noch bis zum 15. November 2020 im Kunsthaus Zürich zu sehen. Am 1. November 2020 findet dort auch das Symposium «Die postkoloniale Schweiz» statt, unter anderen mit Patricia Purtschert, Noémi Michel, Bernhard C. Schär, Fatima Moumouni. www.kunsthaus.ch

«Janus» : Eine Flucht nach vorn, die nach hinten losgehen könnte

Das Kunsthaus Zürich geht in die Offensive. Unter dem Motto «Ein neues Gesicht für den Heimplatz» wurde Anfang September – schräg neben dem Eingang und ein paar Meter neben dem berüchtigten «Höllentor» – Kader Attias Skulptur «Janus» auf den Sockel gehoben. Wie der Name schon sagt, handelt es sich dabei um einen überdimensionalen Doppelkopf aus zwei zerschlagenen Visagen. Die Arbeit entstand im Rahmen von Attias Auseinandersetzung mit versehrten Soldaten des Ersten Weltkriegs: Deren «gueules cassées» liess er von senegalesischen Kunsthandwerkern nachformen, im Gedenken an die Hunderttausenden vergessenen Soldaten aus den Kolonien.

Die neue Skulptur war auch Thema beim Künstlergespräch zwischen Attia und Mirjam Varadinis, der Kuratorin seiner Ausstellung im Kunsthaus. Der Künstler der Dekolonialisierung erzählte dort, wie ihm beim Gang durch die Sammlung des Kunsthauses grosse Lücken betreffend nichteuropäische Kunst aufgefallen waren. Varadinis wiederum betonte, dass bezüglich Kolonialismus in der Schweiz eine weitgehende Amnesie herrsche. Das ist nicht falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Wahr ist, dass das Kunsthaus selbst bis jetzt kaum mit postkolonialen Ansätzen oder KünstlerInnen aufgefallen ist. Wer im hauseigenen Shop nach Büchern zu Kader Attia oder zum Postkolonialismus fragt, läuft bis heute auf. Dabei wurde in diesem Feld bereits viel Arbeit geleistet. Am Symposium «Die postkoloniale Schweiz», das Attia und Varadinis initiiert haben, werden die eingeladenen HistorikerInnen sicher davon berichten.

Vor allem aber fragt man sich, ob bei aller Brisanz des postkolonialen Themas für das Kunsthaus andere historische Brennpunkte nicht genauso drängend wären. Immerhin verbindet die Blickachse dieses Januskopfs das alte Kunsthaus mit dem Neubau, wo bald die Sammlung des Schweizer Waffenschmieds Emil G. Bührle eine luxuriöse Plattform finden wird. Im Stammhaus hat dieser einst etwa den «Bührle-Saal» finanziert. Viel Blutgeld für die Kunst also, den Grundstock seines Vermögens legte Bührle mit Kanonenlieferungen an die Nazis (die WOZ hat wiederholt berichtet).

Kader Attia erklärt auf Anfrage, er habe von diesen Verstrickungen mit Bührle nichts gewusst und hätte sich sonst durchaus überlegt, diese aktiv aufzugreifen. Björn Quellenberg, Pressesprecher des Kunsthauses, will die konkrete Frage, ob auch die Bührle-Geschichte ebenso prominent künstlerisch verhandelt werden wird, nur allgemein beantworten: Attias «Janus» sei «die wohl direkteste künstlerische Auseinandersetzung mit der Barbarei des Krieges», schreibt er. So macht es den Anschein, dass man sich lieber wohlfeil mit einem postkolonialen Statement wider den Krieg schmückt, als sich explizit und öffentlich mit dem Problem des Kriegsgewinnlers und Mäzens im eigenen Haus auseinanderzusetzen.

Und leider noch etwas: Die «Janus»-Skulptur auf dem Heimplatz ist ein Geschenk des norwegischen Geschäftsmanns Christen Sveaas, nicht seine erste Gabe ans Kunsthaus. Eine kurze Recherche ergibt, dass Sveaas früher mehrfach rechte und rechtspopulistische norwegische Parteien mit hohen Geldbeträgen unterstützt hat. Auf die Nachfrage, ob das nicht in Widerspruch zu Attias Arbeit und Engagement stehe, schreibt Quellenberg knapp: «Nehmen Sie die Kunst, wie sie ist.» Eine Variante der alten Phrase vom Geld, das nicht stinkt. Ob das reicht als Kommunikationsstrategie fürs 21. Jahrhundert, wo man sich im Kunsthaus gemäss eigenen Aussagen hin «zu einer globalen, (selbst)kritischen und inklusiven Kultur» bewegen will?

Daniela Janser