21.00: «So etwas habe ich noch nie gesehen»

An diesem Tag schwirren im Bundeshaus viele ErklärerInnen herum. Einer der ruhigen unter ihnen ist der Politikwissenschaftler Werner Seitz. Er leitete im Bundesamt für Statistik bis zu seiner Pensionierung im letzten Jahr die Sektion «Politik, Kultur, Medien» und ist Mitautor einer Geschichte der Grünen. Umso mehr lässt seine Analyse aufhorchen. «Der Erfolg der Grünen ist in dieser Dimension völlig überraschend», meint er zu den vorliegenden Resultaten. «Sie haben auch an Orten gewonnen, wo ich es nie erwartet hätte.»
Werner Seitz, welche Sitzgewinne der Grünen hatten Sie nicht auf dem Zettel?
Die Sitzgewinne in den Kantonen Thurgau oder Solothurn. Auch der Gewinn des Ständeratsmandats in Neuenburg kommt für mich völlig überraschend. Im Tessin oder in Freiburg hatte ich mir einen Erfolg zumindest als Gedankenspiel vorgestellt. Im Wallis schien er mir möglich, aufgrund der kantonalen Wahlen. Was wir hier erleben, ist ein historischer Sieg der Grünen.
Gab es je eine vergleichbare Verschiebung?
In der Geschichte der Proporzwahlen hat, von ihrer Einführung abgesehen, keine Partei je derart viele Sitze gewonnen: siebzehn, wenn es dabei bleibt! Nicht einmal die SVP schaffte das, sie erzielte maximal plus fünfzehn Sitze. Um die Dimension zu begreifen: Aus den Grünen wurde heute eine Partei, die in der gleichen Liga spielt wie die CVP und die FDP. Mit 28 Sitzen hätten sie die CVP überholt und wären nur einen Sitz hinter der FDP, die derzeit auf 29 Mandate käme.
Die Grünen waren auch erfolgreicher als die Grünliberalen. Erklären Sie sich das auch mit der sozialen Positionierung der Partei?
Sowohl in Prozenten wie auch bei den Sitzen haben die Grünen doppelt so viel zugelegt wie die Grünliberalen. Die soziale Positionierung spielte dabei sicher eine Rolle. Die grüne Präsidentin Regula Rytz sagte immer, der ökologische Umbau müsse sozial abgefedert sein. Das liessen die Grünliberalen offen.
Wie erklären Sie sich die Verluste der SP?
Diese sind kein Weltuntergang, wie auch die Verluste der FDP nicht. Die SP kam offensichtlich nicht in die Gänge, was wohl vor allem mit dem starken Label der Grünen in der Ökologiefrage zu tun hat. Sie sind nun einmal das Original, auch wenn die SP schon lange Umweltpolitik macht und einen «Marshallplan» für einen ökologischen Umbau präsentiert hat. Auch der FDP hat es offenbar nichts gebracht, sich grün anzustreichen.
Die grosse Verliererin ist die SVP. Wie beurteilen Sie deren Resultat?
Sie ist wieder dort, wo sie 2011 war, nach der Abspaltung der BDP. Bei den letzten Wahlen konnte sie von der Migrationsdiskussion profitieren. Nun hat die SVP flächendeckend verloren, praktisch in jedem zweiten Kanton. Am Boden ist sie nicht, aber sie hat schlecht mobilisiert, besonders in der Westschweiz.
War diese Wahl eine Mobilisierungswahl?
Auf jeden Fall. Das Bild der kommunizierenden Röhren von SP und Grünen, wonach die Parteien wechselseitig ihre WählerInnen austauschen, trifft nicht zu. Neue WählerInnen gingen an die Urne, frühere blieben ihr fern. Das eine dürfte bei den Grünen zutreffen, das andere bei der SVP.
Die Grünen stellen nun den Anspruch auf einen Bundesratssitz. Berechtigterweise?
Gestern hätte ich noch Nein gesagt, weil die Grünen im Ständerat nur einen Sitz innehatten. Aber wir sehen, dass die Grünen auch im Ständerat stärker werden, zwei Sitze haben sie auf sicher, und in der Waadt, in Genf, in Basel-Landschaft, in Bern durchaus intakte Chancen im zweiten Wahlgang.
Mit welchem Ausgang rechnen Sie?
Wenn die Linke im Ständerat stärker werden will, braucht es nun etwas politische Intelligenz und schlaue Absprachen. In Basel-Landschaft sollte sich wohl die Kandidatin der Grünen oder der Kandidat der SP zurückziehen, um dem je anderen die Wahl zu sichern. In Bern könnte sich ein Doppelangriff von Hans Stöckli und Regula Rytz gegen die Bürgerlichen lohnen.