Fotogeschichte: Bildreportage als redaktionell getarnte Propaganda
Ein bekannter Fotograf, ein verurteilter Sexualstraftäter bei Pro Juventute und die problematische Rolle von Illustrierten. Was hinter der Fotografie steckt, die wir letzte Woche auf dem Cover zeigten.

Wir sehen einen Mann und drei Kinder von hinten, vier dunkle Silhouetten in einer winterlich weissen Landschaft. Sie bewegen sich weg von der Betrachterin; zwei Buben halten sich an der Hand, halten aber auch Abstand zum Mann, das dritte Kind wird von ihm geführt. Die Szene mag auf den ersten Blick unschuldig erscheinen, und doch strahlt die Fotografie etwas latent Bedrohliches aus. Was wohl mit ein Grund ist, dass sie bis heute immer wieder benutzt wird, um Artikel und wissenschaftliche Abhandlungen zu den gewaltsamen Kindswegnahmen und der Zerstörung von jenischen Familien durch Pro Juventute und Behörden zu bebildern.
Auch die WOZ hat die Fotografie letzte Woche auf der Titelseite abgedruckt – als Illustration zur Publikation eines wegweisenden neuen Gutachtens, das dieses jahrzehntelange, systematische Herausreissen von jenischen Kindern aus ihren Gemeinschaften zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt.
Die eindringliche Abbildung erschien erstmals 1953 im Schweizer Magazin «Die Woche» als Aufmacher zu einer dreiseitigen Bildreportage. Diese sollte belegen, wie «verwahrloste Kinder» dank Pro Juventute mit «Geduld, Liebe und Festigkeit» einem besseren Leben zugeführt werden.
Mit fanatischem Eifer
Peter und Georg, zwei der drei Kinder auf der Fotografie, wurden ihrer Familie entrissen und in ein Heim gebracht. Sie seien keine «Zigeuner», sondern die Enkel «einer missratenen Bürgerin eines ehrbaren Schweizer Dorfs», wie es im Artikel heisst.* Die Familie wird nicht mit ihrem richtigen Nachnamen, sondern nur mit einem Übernamen – «Ribeli» – genannt. Nachdem die «Ribeli» in die «Gesellschaft der Landfahrer» gekommen seien, habe «das Unheil seinen Lauf» genommen. Die Reportage beschreibt, wie die Buben ihre Schwestern in einer Haushaltungsschule besuchen, begleitet von ihrem Vormund: dem Mann auf dem Foto.
Dieser Vormund ist Alfred Siegfried. Der ausgebildete Lehrer hat 1926 das «Hilfswerk» Kinder der Landstrasse lanciert und über dreissig Jahre lang geleitet. In dieser Zeit war er verantwortlich für 586 Kinder. Daneben war er auch noch für die Kinderhilfe des Roten Kreuzes zuständig. 1924, im selben Jahr, als er zu Pro Juventute kam, war er vom Basler Strafgericht wegen sexuellen Missbrauchs eines Schülers verurteilt worden und aus dem Schuldienst ausgeschieden. Er war geständig. Ob Pro Juventute damals von der Verurteilung wusste, lässt sich heute nicht mehr eruieren. Doch gab es zahlreiche Hinweise, dass er während seiner Zeit bei Pro Juventute weitere Übergriffe beging, vermutlich dadurch befördert, dass er einige Kinder auch in seiner Freizeit «betreute». Verschiedene Zeitgenoss:innen berichten, dass er die Kindswegnahmen mit einem an Fanatismus grenzenden Eifer betrieb. In seinen Schriften argumentierte er mit NS-Rassentheorien.
Der Fotograf hinter dem Beitrag für «Die Woche», den Pro Juventute selber beim Magazin in Auftrag gegeben hatte, heisst Hans Staub. Er war ein bekannter Schweizer Reportagefotograf des 20. Jahrhunderts, arbeitete für die wichtigen Illustrierten der Vor- und Nachkriegszeit. Ein Bildband von 1984 zu seinem Werk zeigt seine Verdienste als Dokumentarist von Arbeiter:innenkämpfen, von Stadt- und Bäuer:innenalltag in der Schweiz.
Doch wie der Beitrag in der «Woche» zeigt: Staub fotografierte auch redaktionell getarnte Propaganda für Pro Juventute. Seine Bilder zeigen strahlende, «saubere» und «fleissige» (wie stets betont wird) Kinder, denen es nach langem Leid endlich besser gehe. In den Begleittexten wird der Vormund Siegfried anbiedernd als «Götti» bezeichnet. «Zwölf Kinder hatten kein Dach … bis ein Gemeindevorstand zum Rechten sah und sie dem Pro-Juventute-Hilfswerk zuführte», lautet die unverhohlen für Pro Juventute werbende Überschrift.
Oft schrieb Staub die Texte zu seinen Reportagen selber; so auch ein Jahr später, als seine Fotoserie in der «Schweizer Familie» nochmals abgedruckt wurde. Nun ging es darum, Pflegefamilien für die Kinder zu finden. Und bereits in den dreissiger Jahren beendete Staub eine Reportage zu «Jenischen Schweizern» für die «Zürcher Illustrierte» mit dem ominösen Satz: «Bis allen jenischen Schweizern die Heimat wirklich Heimat und glückliche Rast geworden ist, braucht es noch viele Opfer von Staat, Gemeinden und gemeinnützigen Institutionen.»
Der «Götti» als «Schoggitüüfel»
Erst in den siebziger Jahren veränderte sich die öffentliche Wahrnehmung dank einer Artikelserie von Hans Caprez im «Schweizerischen Beobachter»: Caprez enttarnte die vermeintliche Wohltätigkeit von Pro Juventute als rassistische Schandtat, die bei Kindern und Eltern unermessliches Leid verursacht hatte. Nun wurden nur noch die ambivalenten Aufnahmen von Staub verwendet: die Serie mit den Kindern im Schnee; eine Fotografie, auf der Siegfried einem Mädchen in den Mund greift, um seine schlechten Zähne zu zeigen.
In einem kurzen Text von 1998 zu einem der Schneebilder berichtet Historiker und Volkskundler Walter Leimgruber von einem interessanten Detail: Manche Kinder hätten Siegfried «Schoggitüüfel» genannt, weil er immer Süssigkeiten in seinen Taschen trug. Das erinnert vielleicht nicht zufällig an den Film «Es geschah am helllichten Tag» (1958) und den von Gert Fröbe gespielten Kindermörder, der die Kinder mit Schokotruffes in den Wald lockt. Und es macht deutlich, dass man die Wahrheit sehr viel früher erfahren hätte, wenn man auf die Kinder gehört hätte.
Siegfried starb 1971, kurz bevor der «Beobachter» den ersten kritischen Artikel publizierte. Der Fotograf Hans Staub war in Vergessenheit geraten, wurde aber im Jahrzehnt vor seinem Tod 1991 wiederentdeckt. Die öffentlich auffindbaren Spuren der Kinder verlieren sich.
Sara Galles Buch «Kindswegnahmen» (Chronos-Verlag, 2016) ebenso wie die Fotostiftung Schweiz, die den Nachlass von Hans Staub betreut, und ihr ehemaliger Leiter Peter Pfrunder lieferten wertvolle Hinweise zu Staubs Fotografie.
* Korrigenda vom 10. März 2025: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion stand, die Fotografie passe «im strengen Sinn nicht ganz zum spezifischen Unrecht an jenischen Kindern und Familien». Das ist falsch. Gemäss mündlicher Richtigstellung der Historikerin Sara Galle handelt es sich bei den in der Reportage erwähnten Brüdern auf der Fotografie, die zu Opfern der Pro-Juventute-Aktion «Kinder der Landstrasse» wurden, sehr wohl um Jenische. Aus der Bildreportage von 1953, wo die Fotografie zum ersten Mal publiziert wurde, geht das nicht klar hervor. Wir bedauern es, den falschen Schluss gezogen zu haben.