Verfolgung der Jenischen: Beschönigt und verleugnet

Nr. 45 –

Ein eigenartiger Auftrag, ein zensurierter Bericht und intransparente Kommunikation: Der Bund spielt bei der Aufarbeitung des an den Jenischen verübten Unrechts eine zweifelhafte Rolle.

Pro-Juventute-Leiter Alfred Siegfried mit jenischen Kindern, 1953
Es ging um die komplette Auslöschung einer Kultur: Pro-Juventute-Leiter Alfred Siegfried mit jenischen Kindern, 1953. Foto: © Hans Staub, Fotostiftung Schweiz

Hat die Schweiz einen Genozid verantwortet? Mit dieser Frage setzt sich der Bund zurzeit auseinander: Das Bundesamt für Kultur hat im März ein juristisches Gutachten beim Völker- und Staatsrechtsprofessor Oliver Diggelmann in Auftrag gegeben, das diese Frage klären soll.

Das Gutachten ist die aktuellste Wendung in einem seit Jahrzehnten andauernden und zermürbenden Kampf, den Vertreter:innen von Jenischen und Sinti mit dem Bund führen. Sie verlangen eine angemessene Darstellung ihrer Geschichte, die Anerkennung der Mitschuld des Bundes und eine juristische Aufarbeitung: Die Verfolgung der jenischen Familien und die durch das Programm «Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute angestossenen Familienzerreissungen sollen endlich als Völkermord anerkannt werden.

«Vaganten, Trinker und Dirnen»

Dass sich der Bund nach jahrelangem Hinhalten doch bewegt hat, ist zwar erfreulich – doch die Art und Weise, in der das verantwortliche Bundesamt für Kultur das Ganze angeht, sorgt nicht nur bei Betroffenen für Unverständnis: Es geht um intransparente Kommunikation, das Zurückhalten wichtiger Informationen sowie eingeschwärzte Berichte. Doch der Reihe nach.

Anfang Jahr baten die Radgenossenschaft und weitere Vertreter:innen von Jenischen und Sinti Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider um «die politische Anerkennung der Familienzerreissungen […] als kulturellen Genozid». Auch Isabella Huser hat den Brief unterzeichnet. Die Autorin hat sich vor drei Jahren in ihrem beeindruckenden Roman «Zigeuner» literarisch mit der Geschichte ihrer jenischen Vaterfamilie auseinandergesetzt, die über Jahrhunderte von den Behörden verfolgt wurde (siehe WOZ Nr. 36/21). «Weder der Bund noch Pro Juventute haben je anerkannt, dass es eine systematische Verfolgung der Jenischen gegeben hat», sagt Huser. Genau diese Systematik ist aber bei der Frage nach einem Genozid an den Jenischen und den Sinti relevant.

Jenische und Sinti sind vom Bund anerkannte nationale Minderheiten, 30 000 Jenische leben heute in der Schweiz, nur rund zehn Prozent von ihnen reisend. Von 1926 bis 1973 entriss das «Hilfswerk» Kinder der Landstrasse über 600 jenische Kinder ihren Familien – die Gesamtzahl jenischer Kinder, die in jener Zeit von Behörden und Hilfswerken ihren Eltern weggenommen wurden, wird heute auf 2000 geschätzt – unter dem Vorwand, sie vor einem Leben mit «Vaganten, Trinkern und Dirnen» zu retten. Es sperrte Schwangere ein, vollzog Zwangssterilisationen sowie Zwangsinternierungen.

Lanciert wurde «Kinder der Landstrasse» von Alfred Siegfried. Nur zwei Jahre vor seinem neuen Karrierestart hatte Siegfried in Basel seine Stelle als Lehrer verloren, weil er wegen sexuellen Missbrauchs eines minderjährigen Schülers verurteilt worden war. Siegfrieds Ziel war vordergründig die Auslöschung der reisenden Lebensweise der Jenischen, er bekämpfte fanatisch «die Vagantität». Tatsächlich entriss das Hilfswerk jedoch nicht «nur» fahrenden jenischen Familien die Kinder, auch Kinder von Sesshaften wurden systematisch und unter Zwang den Eltern weggenommen, in Heimen, Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten oder bei nichtjenischen Pflegeeltern untergebracht oder Bauernfamilien als Arbeitskraft übergeben. Somit ging es nicht um die Zerstörung der «fahrenden Lebensweise», sondern um die Auslöschung der jenischen Kultur. Die Aktion wurde beendet, nachdem eine 1972 erschienene Artikelserie im «Beobachter» die Verbrechen von Pro Juventute offengelegt hatte. Doch unter den Folgen leiden Betroffene und Nachgeborene bis heute.

Laut Konventionstext der Uno und dem Schweizerischen Strafgesetzbuch handelt es sich um einen Völkermord, wenn man «Kinder einer Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt oder überführen lässt». Genau das sei im Fall des Programms «Kinder der Landstrasse» passiert, sagt die Strafrechtsprofessorin Nadja Capus, die diese Einschätzung vor zwei Jahren in einem aufsehenerregenden Interview mit dem «Beobachter» bekräftigte.

Dem aktuellen Auftrag von Oliver Diggelmann steht Capus skeptisch gegenüber. Es sei unglücklich, dass das Mandat nicht öffentlich kommuniziert worden sei: «Ohne dass ich den genauen Auftrag kenne, scheint er mir eigenartig: Eine einzelne Person, ein Völkerrechtsprofessor, kann unmöglich diese Herkulesaufgabe meistern und aufarbeiten, ob und in welcher Form es in der Schweiz zu genozidalen Handlungen gegenüber den Jenischen gekommen ist.» Eine solche Aufarbeitung wäre jedoch angezeigt aufgrund der Indizien, die bereits geleistete historische Arbeiten enthalten. Wobei Capus betont, dass sich die Aufarbeitung nicht auf die Aktion «Kinder der Landstrasse» beschränken soll. «Denn wurden erwachsene Jenische in genozidaler Absicht in Heime und psychiatrische Anstalten gesperrt, kastriert oder sterilisiert, dann wäre auch das aus heutiger Sicht Teil eines Genozids.»

Täterperspektive erkennen

Autorin Isabella Huser erhofft sich vom Gutachten, «dass nicht weiter beschönigt, kleingeredet, verleugnet, vermengt wird. Und dass die Täterperspektive als solche erkannt wird.» Die Täter – und das macht das Ganze so brisant – sind in diesem Fall nicht allein die Stiftung Pro Juventute, Behörden und namhafte Politiker. Täter war auch der Bundesrat: Bis in die neunziger Jahre wurde die Stiftung jeweils von einem Bundesrat präsidiert. Zudem unterstützte der Bund das «Hilfswerk» von 1930 bis 1967 auch finanziell. Der Auftraggeber des Gutachtens ist also gleichzeitig auch der Rechtsnachfolger der Täter.

Sandra Gerzner, Mitglied der Union der Vereine und der Vertreter der Schweizer Nomaden (U.V.V.S.N.), konnte als Vertreterin jenischer Betroffener an den Forschungsfragen des Diggelmann-Gutachtens mitarbeiten. Trotzdem sollte das Gutachten, anders als sie es erwartet hatte, zuerst an den Bund gehen, erst später sollten es die Betroffenen zur Ansicht bekommen. Das ordnete das BAK zur grossen Frustration Gerzners an: «Wir sehen uns in diesem Fall als Mitarbeitende, die grosse Arbeit geleistet haben», sagt sie.

Die U.V.V.S.N. verlangte deshalb, das Diggelmann-Gutachten zeitgleich mit den Behörden des Bundes zu erhalten, «um auch unsererseits die nötigen Konsultationen durchführen zu können». Auf diesen Antrag hin – sowie auf Nachfrage der WOZ – meldete sich der Leiter der Rechtsdienst des Bundesamts für Kultur bei Gerzner. Er versichert, dass das Gutachten nun doch zeitgleich mit dem Bundesrat auch der U.V.V.S.N. zugestellt werde. Und er erklärte, dass sich der Bundesrat zu beiden hängigen Gesuchen bezüglich der Anerkennung eines Genozids äussern werde.

Das zweite Gesuch ist ein Schreiben aus dem Jahr 2021. Die U.V.V.S.N. verlangt darin, dass die Schweiz «den kulturellen Völkermord/Ethnozid anerkennt, den sie an den Schweizer Jenischen und Sinti begangen hat». In der Folge gab das BAK eine Expertise bei Mô Bleeker in Auftrag, frühere Sonderbeauftragte für Vergangenheitsbewältigung und Prävention von Gräueltaten im Aussendepartement (EDA). Bleeker hat in dieser Funktion in verschiedenen Ländern dazu beigetragen, Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. Dabei arbeitet sie nach den sogenannten Joinet-Prinzipien, die die Rechte der Opfer anerkennen und die Pflichten der Staaten festlegen. Während das EDA stolz auf die wichtige Rolle der Schweiz bei der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen im Ausland verweist, wird dies im eigenen Land nur halb so ernst genommen: Als der Bleeker-Bericht im März 2023 fertiggestellt war, blieb er zur Überraschung der Befragten erst einmal unter Verschluss.

Sowohl Isabella Huser wie auch Sandra Gerzner betonen, sie seien davon ausgegangen, dass der Bericht selbstverständlich auch ihnen und den jenischen Gemeinschaften offengelegt würde. Die Verfasserin Mô Bleeker schreibt auf Anfrage, dass das mit dem BAK im Vorfeld nicht ausdrücklich besprochen worden sei. Doch Beraterverträge enthielten immer eine Vertraulichkeitsklausel: «Das Ergebnis gehört immer dem Auftraggeber.»

Klare Worte findet Nadja Capus: «Der Umgang mit diesem Bericht entspricht in meinen Augen der zermürbenden Salamitaktik der Bundesbehörden in dieser Angelegenheit: Nur auf Aktivismus und auf konkrete Forderungen hin wird reagiert, und die Reaktionen sind nicht von staatspolitischer Grösse gekennzeichnet.»

Anfang Jahr verlangte Isabella Huser erneut den Zugang zum Bleeker-Bericht, was ihr das BAK mit der Begründung verweigerte, der Bericht sei Grundlage für weitere Schritte und Entscheide. Eine Veröffentlichung berge die Gefahr, dass die Meinungsbildung des BAK und weiterer Bundesbehörden sowie die konstruktive Lösungsfindung mit betroffenen Organisationen durch eine «mögliche verfrühte öffentliche Polemik aus verschiedenen Kreisen wesentlich beeinträchtigt würde». Erst nach einem Antrag nach Öffentlichkeitsgesetz und einer entsprechenden Empfehlung des Datenschutzbeauftragten wurde das Dokument freigegeben – allerdings nicht vollständig: Die Schlussfolgerungen bleiben unter Verschluss. Das sei skandalös, meint Strafrechtlerin Nadja Capus. Sie hoffe, dass der Umgang mit dem aktuellen Diggelmann-Gutachten besser verlaufe.

Nicht wirklich partizipativ

Doch was steht im Bleeker-Bericht, dass sich das BAK so sehr vor einer Veröffentlichung fürchtet? Der Bericht, der der WOZ (unvollständig) vorliegt, fasst die Aussagen der Interviewten zusammen, er formuliert deren Empfehlungen aus und schlägt den Parteien mehrere Wege im Umgang mit dem Antrag zur Anerkennung des Genozids vor: Neben einem juristischen Ansatz sieht der Bericht einen restaurativen Ansatz vor. Im Austausch mit den betroffenen Gemeinschaften soll ein Massnahmenpaket erarbeitet werden. «Dieser restaurative Ansatz ist partizipativ par excellence», schreibt Bleeker.

Doch wenn Berichte den Betroffenen vorenthalten und geschwärzt werden, scheint der Ansatz nicht wirklich partizipativ. Isabella Huser kritisiert, dass sich der Bund weiter gegen eine Auseinandersetzung mit diesem Kapitel Schweizer Geschichte sperre und die jenischen Gemeinschaften als Gesprächspartner nicht ernst nehme. Und Sandra Gerzner betont: «Der Bericht von Mô Bleeker ist für unseren weiteren Prozess von grosser Bedeutung, da er wertvolle Einsichten und Perspektiven bietet.»

Noch ist offen, zu welchen Schlüssen das Diggelmann-Gutachten kommt und was es für Konsequenzen haben wird. Strafrechtsprofessorin Capus bezweifelt, dass es nach so vielen Jahrzehnten und den vielen vollzogenen Aktenvernichtungen noch zu Strafverfolgungen kommt. Für Gerzner ist eines jedoch klar: «Was auch immer am Ende im Gutachten steht: Die Probleme, die wir heute wegen der fürchterlichen Dinge haben, die uns in der Vergangenheit angetan wurden, die müssen endlich aufgearbeitet und angegangen werden.»

Nachtrag vom 19. Dezember 2024: Jenische warten auf eine Antwort

«Wann gedenkt der Bundesrat, das Gutachten zu veröffentlichen?» Dies ist eine von sieben Fragen, die die grüne Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber in ihrer vor ein paar Tagen eingereichten Interpellation stellt. Die Fragen beziehen sich auf das juristische Gutachten, das das Bundesamt für Kultur (BAK) vergangenen März beim Zürcher Völker- und Staatsrechtsprofessor Oliver Diggelmann in Auftrag gegeben hatte. Dieses soll klären, ob die Schweiz im Zusammenhang mit dem sogenannten Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» einen kulturellen Genozid verantwortet. Das 1926 von der Pro Juventute gegründete «Hilfswerk» war bis 1973 aktiv und nahm Kinder von Jenischen und Sinti ihren Familien weg, mit dem Ziel, deren Kultur auszulöschen.

Obwohl das Gutachten seit längerem dem BAK vorliegt, hat sich der Bundesrat noch nicht dazu geäussert. «Es geht nicht an, dass man einen Bericht hat und diesen einfach nicht veröffentlicht», sagt Prelicz-Huber. «Es gibt Leute, die das Recht haben, zu erfahren, was drinsteht.» Tatsächlich stehen die Betroffenen einmal mehr vor der demütigenden Situation, dass ihnen die Behörde Informationen vorenthält, die für sie relevant sind. Dies, obwohl Mitglieder der Union der Vereine und der Vertreter der Schweizer Nomaden an der Forschungsfrage mitarbeiten konnten und erwartet hatten, das Gutachten gleichzeitig wie das BAK zu erhalten – was nicht der Fall war.

«Wenn das Gutachten auch nur ansatzweise den Genozid bestätigt, ist das natürlich ein dunkler Fleck in der Schweizer Geschichte», so Prelicz-Huber. Umso wichtiger sei es, genau hinzuschauen, wie der Bundesrat Stellung beziehe. So lautet denn auch die letzte der sieben Fragen: «Was sind die Konsequenzen, die der Bundesrat aus dem Gutachten zieht, und welche Massnahmen gedenkt er einzuleiten?» Der Bundesrat hat nun ein halbes Jahr Zeit, diese Fragen zu beantworten. Zu wünschen wäre, dass er sich – wie ursprünglich kommuniziert – noch Ende dieses oder Anfang nächstes Jahr zum Bericht äussert.