Verfolgung der Jenischen: «Die Assimilierung war das Mittel»
Endlich anerkennt ein Gutachten: Die Zerstörung jenischer Familien in der Schweiz war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein Meilenstein, sagt die Strafrechtsprofessorin Nadja Capus. Trotzdem äussert sie Kritik.

WOZ: Nadja Capus, das Gutachten des Völkerrechtsprofessors Oliver Diggelmann kam zum Schluss, dass die Verfolgung der Jenischen von den zwanziger bis in die siebziger Jahre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war. Wie bewerten Sie dies?
Nadja Capus: Das Gutachten markiert einen Meilenstein in der Aufarbeitung der Verfolgung der Jenischen in der Schweiz. Das Gutachter:innenteam hat eine schwierige Aufgabe, für die es nicht nur juristisches Wissen brauchte, sondern auch Faktenkenntnis und Sensibilität für die Aufarbeitung dieser heiklen Thematik, in sehr kurzer Zeit sehr gut gelöst. Diese Bewertung aus heutiger völkerstrafrechtlicher Sicht benennt, wie gravierend und systematisch die Angriffe auf die Jenischen waren. Die Einstufung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit sichert zudem eine klare Erinnerung.
WOZ: In einem Interview sagten Sie 2022, das Vorgehen der Pro Juventute erfülle den Tatbestand des Völkermords. Bei den Kindeswegnahmen des «Hilfswerks» Kinder der Landstrasse sei es darum gegangen, die Kinder von ihrer Gruppe zu entfremden. Man müsse aber eine Absicht dahinter nachweisen können, was nicht einfach sei. Das Gutachten kommt nun zum Schluss, dass es sich nicht um einen Genozid handelte. Konnte es keine Absicht nachweisen?
Nadja Capus: Als Strafrechtlerin hatte ich im Interview an die beweistechnischen Schwierigkeiten gedacht, insbesondere weil die Taten lange zurückliegen. Täter:innen, Opfer und Zeug:innen sind verstorben, Akten wurden vernichtet. Die bisher erfolgte historische Forschung brachte einige Fakten zutage, die die Absicht beweisen. Das zeigt auch das Gutachten und verweist darauf.
WOZ: Warum kommt es trotzdem zum Schluss, dass es kein Genozid war?
Nadja Capus: Weil im Gutachten eine Definition des Völkermords zugrunde gelegt wird, nach der es nicht reicht, eine Vernichtungsabsicht zu haben, sondern es eine spezifisch biologische oder physische Vernichtungsabsicht geben muss – und das sei im Kontext der Jenischen nicht der Fall gewesen. Ich kann dieser Argumentation nicht folgen. Mit der Adoption in eine nichtjenische Familie sollte das jenische Kind aufhören zu existieren und so später selber keine jenische Familie gründen. Andernfalls wäre die Kindeswegnahme als Tatbestandsvariante des Völkermords grundsätzlich unanwendbar.

WOZ: Diggelmann argumentiert, es sei um erzwungene Anpassung der Gruppe an die Kultur der Mehrheitsgesellschaft gegangen, nicht um deren biologische Vernichtung.
Nadja Capus: Das ist der springende Punkt: Was für ein anderes Ziel könnten die Kindeswegnahmen gehabt haben als die Auslöschung der ethnischen Gruppe? Das Gutachten schreibt: «die Assimilierung der Mitglieder der ethnischen Gruppe». Aber assimilieren heisst ja, das eigene Wesen ablegen und ein anderes werden – und bedeutet somit die Auslöschung der eigenen ethnischen Gruppe. Was mich ausserdem irritiert hat: Das Autorenteam betont, dass die Assimilierung das primäre Ziel gewesen sei – dabei war sie doch das Mittel zur Auslöschung, genau wie die Fortpflanzungsverhinderung. Somit erfüllt sie den gesetzlichen Tatbestand.
WOZ: Kommen wir nochmals zum Verdikt «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Sowohl Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider wie auch Professor Diggelmann betonten an der Pressekonferenz, dass dies ein genauso schwerwiegendes Verbrechen sei wie Genozid. Was sind die Unterschiede?
Nadja Capus: Völkermord ist das schwieriger nachweisbare Verbrechen als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ist auch enger gefasst – doch es gibt kein Ranking bezüglich des Schweregrads dieser beiden Verbrechen.
Nadja Capus: Der Tatbestand «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» ist sozusagen das Herzstück des Völkerstrafrechts. Ausserdem bezieht sich das Gutachten explizit auf den Subtatbestand «Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe» und anerkennt damit, dass die Mitglieder der jenischen Gruppe verfolgt worden sind, weil sie Mitglieder dieser ethnischen Gruppe waren. Die Jenischen haben erreicht, dass nun Klarheit in der Bewertung besteht: Was ihnen widerfahren ist, war ein Verbrechen, vor dem sie der Staat nicht nur nicht geschützt hat, sondern dessen Vertreter:innen selber mitgemacht haben.
WOZ: Welche Konsequenzen hat dieser Schluss für die offizielle Schweiz?
Nadja Capus: Die Schweiz steht vor einer grossen Aufgabe. Es gibt kein Standardverfahren und bedeutet für alle Neuland. Bisher hat die Bundesverwaltung auf jeden Fall nicht mit ihrer Vorgehensweise geglänzt. Jetzt kündigt Frau Bundesrätin Baume-Schneider eine andere Gangart an: «Il faut agir», betonte sie an der Pressekonferenz mehrfach, man müsse handeln. Darunter verstehe ich auch proaktives Handeln vonseiten der Bundesverwaltung, sodass die Jenischen bei der Aufarbeitung entlastet werden.
WOZ: Wie meinen Sie das?
Nadja Capus: Ich hatte etwas mehr Substanz erwartet an der Pressekonferenz zum Gutachten vergangene Woche: dass zum Beispiel klar ist, dass die Art der Vergangenheitsbewältigung, für die sich die Schweiz international und im Ausland starkmacht, nun auch im eigenen Fall der Mindestmassstab sein wird. Es geht um vier Schlüsselbereiche: Recht auf Wahrheit, Recht auf Gerechtigkeit, Recht auf Wiedergutmachung und Garantie der Nichtwiederholung. Diese sogenannten Joinet-Prinzipien anerkennen die Rechte der Opfer und legen die Pflichten des Staates fest. Dieses Wissen ist in der Bundesverwaltung vorhanden, einfach nicht beim Innendepartement, sondern beim Aussendepartement.
WOZ: Können Sie ein konkretes Beispiel machen?
Nadja Capus: Das Recht auf Wahrheit beinhaltet die Faktensammlung. Das Gutachter:innenteam weist ausdrücklich auf viele Lücken hin – es hatte sich ja auch nicht um eine systematische Aktensammlung und Analyse kümmern können: Grundlage waren zwei historische Arbeiten, die sich auf das Kinderhilfswerk beziehen und wovon die eine ganz offen kritisiert, dass zu wenig Zeit und Mittel zur Verfügung standen.
WOZ: Sind juristische Konsequenzen denkbar?
Nadja Capus: Das betrifft das zweite und dritte Joinet-Prinzip: Recht auf Gerechtigkeit und Recht auf Wiedergutmachung, und es betrifft auch Rechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgehalten sind. Das Resultat des Gutachtens bedeutet: Die Verfolgung der Jenischen war eben nicht dasselbe wie die schreckliche Fürsorgepolitik gegenüber Armen, Verdingkindern und sozial Abweichenden, sondern die Verfolgung einer ethnischen Gruppe. Bisher war alles immer eine Holschuld für die Jenischen: Sie mussten Gesuche und Anträge stellen, um Einsicht in ihre Akten oder Solidaritätsbeiträge zu erhalten. Der Fokus lag nie darauf, dass sie Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind – einem der schlimmsten Verbrechen überhaupt.
WOZ: Was könnte sich nun konkret ändern?
Nadja Capus: Nehmen wir das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Da das Gesetz die Dimension von Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht erfasste, muss eine neue Rechtsgrundlage geschaffen und die bisherige Rechtspraxis neu überprüft werden. Kindeswegnahmen in Form von Adoptionen jenischer Kinder in nichtjenische Familien sind zum Beispiel eine Tatmodalität – unabhängig von weiteren Gewalterfahrungen. Das Unrecht liegt allein in der Adoption, und die betroffene Person ist anspruchsberechtigt. Der Staat muss sich zudem die Verantwortlichkeit zurechnen lassen, dass die Jenischen nicht geschützt worden sind. Das ist eine Verletzung der Schutz- und Gewährleistungspflichten des Staates. Schliesslich weist das Gutachten noch auf einen weiteren wunden Punkt hin.
WOZ: Auf welchen?
Nadja Capus: Die mangelnde Aufarbeitung: Die Schweiz hat nicht einmal versucht, zeitnah effizient Verantwortlichkeiten juristisch zu klären – eine weitere Verletzung fundamentaler Pflichten, zu deren Beachtung sich die Schweiz aber verpflichtet hat. Mit etwaigen juristischen Konsequenzen, etwa in Bezug auf die Staatshaftung, die aus diesen Verletzungen folgen, hat sich die Bundesverwaltung offensichtlich noch nicht auseinandergesetzt. Diesbezüglich wäre es nun an der Zeit, dass nicht abgewartet wird, ob einzelne Betroffene klagen, sondern dass aktiv Lösungen für diese Rechtsverletzungen gesucht werden.
WOZ: Bis heute ist für das Unrecht an den Jenischen keine einzige Person strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen worden. Wäre es noch möglich, gegen jemanden zu ermitteln?
Nadja Capus: Wie der Genozid ist auch das Verbrechen gegen die Menschlichkeit unverjährbar und ein Offizialverbrechen. Das Rückwirkungsverbot verkompliziert aber die strafrechtliche Aufarbeitung erheblich – es erlaubt Ermittlungen nur bis 1995, bei Völkermord bis in die siebziger beziehungsweise achtziger Jahre, und auch nur, wenn das Verhalten bereits nach damaligem Recht strafbar war. Zudem führen wir keine Strafverfahren gegen Tote.
WOZ: Gäbe es weitere Massnahmen?
Nadja Capus: Es wäre angemessen, eine Sonderstaatsanwaltschaft auf Ebene des Bundes einzusetzen, die mit der Hilfe von Historikern und Soziologinnen schweizweit ermitteln kann, wie es die Handlungspflicht aus der EMRK und das erste Joinet-Prinzip fordern. Ob es dann sinnvoll und nötig ist, symbolische Verurteilungen auszusprechen, wäre zu entscheiden.
WOZ: Wie könnten diese ausgesprochen werden?
Nadja Capus: Zum Beispiel in Form eines Völkertribunals, wie es das international tätige Permanente Völkertribunal in Fällen praktiziert, in denen aus vielerlei Gründen ordentliche Strafverfahren nicht durchgeführt werden können, aber ein Sühnebedürfnis besteht. Sie sehen, es gibt einige Pisten. Daher bin ich erstaunt, dass bisher offenbar überhaupt nichts in diese Richtung überlegt worden ist.
Nadja Capus (53) ist Professorin für Straf- und Strafprozessrecht an der Universität Neuenburg. In ihrem Buch «Ewig still steht die Vergangenheit?» (2006) setzt sie sich aus juristischer Sicht mit den Kindeswegnahmen der Pro Juventute auseinander.