In mir die Wände (13) : Frequenzen

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Kinder hören Frequenzen in Bereichen, die für ältere Menschen oft nicht mehr hörbar sind. Darüber hinaus sind sie fähig, mit ihren feinfühligen Antennen instinktiv zu unterscheiden, welches Lächeln echt ist und welches aufgesetzt, wem es gut geht und wer seine Traurigkeit lediglich zu überspielen versucht. Vor allem sensible Kinder registrieren selbst die feinsten Signale in ihrer Umgebung – und beginnen, sich nach ihnen auszurichten. 

In Biografien von Familien mit Flucht- und Migrationsgeschichte gibt es tiefe Einschnitte, nicht nur in denen der Kinder, sondern auch in denen ihrer Bezugspersonen. Entwurzelung hinterlässt Spuren. Im Fall der kurdischen Diaspora in der Schweiz haben die meisten unserer Eltern Gewalt erlebt. Mein Vater erzählte mir von einer seiner ersten Erinnerungen als kleines Kind: Es war eine Begegnung mit dem türkischen Militär. In der Provinz Adıyaman, im Dorf, in dem er aufwuchs, kamen regelmässig Soldaten vorbei. Ein Hauptmann liess alle männlichen Bewohner auf dem Dorfplatz versammeln und sie zum nahe gelegenen Hügel eskortieren. Dort mussten die Männer und die Kinder ihre Kleidung bis auf die Unterwäsche ablegen und einen steinigen, dornigen Hang hinunterrollen. Mit wem man aus der Generation unserer Eltern auch spricht – fast alle haben solche oder ähnliche Schikanen in ihrer Kindheit erlebt. 

Noch gewaltvoller sind die Erzählungen jener, die im Gefängnis landeten. Es sind brutalste Erfahrungen der Folter: Zigaretten, die auf Körpern ausgedrückt wurden, Elektroschocks, Fingernägel, die herausgezogen wurden, tägliche Prügel, widerlichste Formen sexueller Gewalt. Das sind die Geschichten jener, die darüber sprechen. Was unbewusst verdrängt oder bewusst verschwiegen wird, ist eine andere Frage. Die Antwort liegt oft in der Stille, die so viele von ihnen um diese Themen legen.

Nachdem sich unsere Eltern nach Europa gerettet hatten, landeten sie zwar in weniger gewaltvollen Systemen – zumindest, was explizite körperliche Gewalt angeht. Dennoch standen sie hier zuunterst in der Gesellschaft und waren impliziter Gewalt, Ablehnung und Erniedrigung ausgesetzt. Hinzu kam der ökonomische Druck. Unsere Eltern müssen unter emotionalem Dauerstress gestanden haben. Selbst wenn sie es gewollt hätten – es war ihnen kaum möglich, unseren Bedürfnissen vollumfänglich gerecht zu werden. Wie hätten sie das unter diesen Voraussetzungen auch schaffen sollen? Zu Hause war also nicht nur ein sicherer Hafen; es war auch ein Ort, an dem die Eltern selbst in emotionaler Not waren und versuchten, mit ihrer eigenen Biografie klarzukommen.

Kürzlich war ich mit Freundinnen an einer Veranstaltung einer kurdischen Organisation, in der es um Traumata in unserer Gemeinschaft ging. Eine Psychiaterin erläuterte zunächst wissenschaftliche Aspekte: was ein Trauma ist, wie es entsteht und was es heilen kann. Als sie Raum für Rückmeldungen öffnete, meldeten sich verschiedene Personen – doch nicht mit Fragen, sondern mit ihren Geschichten. Ein schätzungsweise siebzigjähriger Mann erzählte, dass er seit sechs Monaten zum ersten Mal in seinem Leben in eine Psychotherapie gehe. Er habe eine passende Therapeutin gefunden, mit der er über seine Kindheit, seine Zeit in Gefangenschaft und seine Gewalt- und Foltererfahrungen sprechen könne. Und er fügte an, dass es ihm sehr guttue. Er wolle Frieden finden und sich entfesseln. Er sagte auch, dass er das Gefühl habe, damit nicht nur etwas für sich selbst, sondern auch für die Zukunft seiner Kinder und Kindeskinder zu tun.

Der Mann hatte es verstanden: Kinder werden zu den Signalen, die ihnen gesendet werden. Ihre feinen Antennen nehmen alles auf – das Belastende wie das Heilsame. Negative, abweisende, destruktive Signale engen sie ein, erschweren ihr Wachstum, ihre Freiheit, ihre Authentizität. Positive, wohlwollende, verlässliche Signale hingegen geben ihnen Raum. Sie öffnen Wege, auf denen sich Beziehung, Vertrauen und Entwicklung entfalten können. Darum müssen wir neue Frequenzen senden – ruhigere, wärmere, klarere. Solche, an denen unsere Kinder wachsen. Und manchmal, wenn wir uns ganz auf ihre Frequenz einlassen und in ihr Spiel und ihre Welt eintauchen, passiert etwas Wundersames: Der alte Lärm verstummt. Und wir hören nur noch die Stimme des Menschen, der aus uns wachsen will.

In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Role Model.