In mir die Wände (12) : Die Glut

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Als Kinder erfahren wir als Erstes, was Nähe bedeutet. Wir lernen, dass sich Wärme nicht allein erzeugen lässt, sondern erst entsteht, wenn da jemand bleibt, dich jemand hält, sieht, hört, wenn jemand mit dir spricht. Kindsein ist der erste Ort, an dem wir erfahren, dass Zuneigung, Verbundenheit, Zärtlichkeit und Solidarität keine abstrakten Begriffe sind. Erst später merken wir, dass aus diesen Erfahrungen auch Haltungen entstehen können, die uns durch das Leben tragen – oder stolpern lassen. Sie bestimmen, wie wir miteinander leben wollen, Schutz organisieren, Macht teilen und wie viel Raum und Wärme wir einander zugestehen. 

In einer Welt, in der Winde der Ablehnung und Erniedrigung wehen und die Stürme des Hasses allzu gewaltig werden können, bleibt manchmal nur eine kleine Glut übrig. Ein winziger Punkt Hoffnung, der einsam im Dunkeln glimmt und zu erlöschen droht. Eine Entmutigung, ein Rückschlag, ein Moment des Wegschauens, ja ein einziger Atemzug könnte reichen, um sie zu ersticken. Diese Glut braucht vor allem Schutz: behutsame Hände, Geduld und Vertrauen. Hoffentlich setzt sich jemand zu ihr, bewacht und wärmt sie – und wird gleichzeitig zurückgewärmt.

Irgendwann stellt sich die Frage, ob wir selbst zur Glut werden wollen. Zu jenen Funken, die anderen zeigen, dass diese Wärme trotz aller Widrigkeiten möglich bleibt – und nichts vorbei ist, bevor es wirklich vorbei ist. Denn so wie ein Atemzug die Glut weghauchen kann, kann ein anderer genau das Gegenteil bewirken: ein kleiner Windstoss, der sie wieder aufleuchten lässt. Mit der Zeit beginnen sich einzelne Feuer miteinander zu verbinden, bis sich ihre Flammen verweben und alles lichterloh flackert, lodert und leuchtet. Das Wichtigste ist, dass das Feuer nie zu brennen aufhört. Denn keiner von uns kann dieses Leben allein warmhalten.

In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Antennen.