In mir die Wände (9) : Von unten

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Was macht unsere Identität aus? Vielleicht ist sie wie Holz – entstanden aus dem, was vor uns war. Aus Schichten, die sich verdichtet haben, aus den Bedingungen, in die wir hineingewachsen sind, aus dem Druck, der uns geformt hat.

Mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien kamen viele Geflüchtete in die Schweiz – Familien mit Kindern, die Schüsse gehört, Gewalt erlebt und Flucht überstanden hatten. Oft brachten sie kaum mehr als einen Koffer mit und fanden sich in Wohnungen wieder, zu eng, zu laut, mit Wänden so dünn wie die unseren. Meine Verbindung zu den geflüchteten Kindern aus dem Balkan war offensichtlich: Auch sie hatten Fluchterfahrung, lebten unter ähnlichen Umständen, wurden fremd gemacht.

Aufzuwachsen zwischen der Realität des Ankunftslands, den Erwartungen von Schule und Gesellschaft und den Ansprüchen der eigenen Eltern und der Herkunftskultur – das ist eine Zerreissprobe. Man pendelt zwischen Sprachen, Codes, Weltsichten – ja ganzen Realitäten – und trägt die Spannungen nach aussen wie nach innen. Sie erschöpfen, sie überfordern. Früh lernt man, zwischen Milieus zu wechseln, Stimmen zu verändern, sich selbst zu übersetzen. Eine Migrationsbiografie fügt der ohnehin fragilen Zeit von Kindheit und Jugend eine weitere, tiefgreifende Ebene hinzu – eine zusätzliche Dimension in der Suche nach Identität, Selbst und Wir.

In unserem Quartier lebte aber auch eine Schweizer Familie – ohne Migrationsgeschichte, in ebenso bescheidenen Verhältnissen. Ich wusste, dass sie nicht viel besassen. Einer ihrer Söhne hiess Tommy. Seine Kleider waren zu gross oder schon abgetragen, und die meisten Kinder hielten Abstand zu ihm. Tommy sprach leiser als die anderen, schaute einem selten direkt in die Augen. Manchmal stand er einfach am Rand des Spielplatzes, die Hände in den Taschen, und trat kleine Steine vor sich her, als würde er sie irgendwohin schicken, wo er selbst nicht hindurfte. Etwas in seiner Haltung kam mir vertraut vor: dieses vorsichtige Warten, bevor man sich einmischt; dieses Wissen, dass man schnell zu viel sein kann.

Vielleicht war das der Anfang eines Wissens, das mich nie mehr verliess: dass man trotz unterschiedlicher Spuren aus demselben Stamm gewachsen sein kann. Dass jede:r von uns Ringe, Fasern, feine Risse in sich trägt, die nicht nur davon erzählen, woher, sondern auch, woraus wir kommen. Und dass wir vielleicht nur von dort aus ein wenig besser verstehen, wer wir eigentlich sind.

In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Dazwischen.