In mir die Wände (14) : Ich bin
Wir sassen im Wohnzimmer einer befreundeten kurdischen Familie, in einem anderen Dorf des St. Galler Rheintals. Der Geruch von Çay vermischte sich mit dem süsslichen Duft von selbstgebackenem Gebäck, und in einer Schale auf dem Tisch lagen die gerösteten Çekirdek. Das Knacken der Schalen, das gedämpfte Gemurmel der Eltern, das Lachen der Kinder – diese Geräusche waren das Zuhause, das wir nicht besassen. Am Bildschirm verfolgten wir die Live-Übertragung aus dem türkischen Parlament in Ankara, einem Raum voller Autorität und angestauter Männlichkeit. Hoch aufragende Wände, schwere, dunkle Holzvertäfelungen und eine monumentale Gestaltung – der Plenarsaal ist eine Inszenierung der Macht. Und über allem, direkt hinter dem Präsidium, die Inschrift: «Alle Macht geht bedingungslos vom Volke aus!»
Hier sollten an diesem Tag die neu gewählten Volksvertreter:innen vereidigt werden. So auch Leyla Zana. Eine Frau, eine Kurdin, eine linke Politikerin – alles in einem Körper, in diesem Parlament, das von Männern und Nationalist:innen dominiert war. Zanas blosse Präsenz war ein Affront, eine Provokation, ein Trigger. Als sie zur Vereidigung schritt, trug sie ein Haarband in den kurdischen Nationalfarben Gelb, Rot und Grün. Dieses kleine Stück Stoff, emanzipatorisches Symbol ihres Andersseins, reichte aus, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Ihr Eid wurde von Zwischenrufen gestört, der Lärm schwoll an. Sie wollten sie zum Verstummen bringen, bevor sie überhaupt gesprochen hatte.
Doch es war zu spät: Wir sahen Leyla Zana entschlossen am Redner:innenpult stehen. Ihre Haltung war keine Bitte, sondern unverrückbar wie die eines Berges. Über ihren Haaren, die die Männlichkeit des Saales ohnehin schon reizten, leuchteten die Farben des Widerstands. Ihre Augen, ihre Haltung, ihr gesamter Auftritt war ein Akt der Emanzipation. Die Prozedur der Vereidigung war eine erzwungene Maskerade, eine Pflichtübung der türkischen Identität. Sie las den Eid in der verordneten Sprache dieses Landes, in der Sprache seiner Gesetze und seiner verleugneten Identität. Aber als sie fertig war, tat sie es: Sie blickte in die Kameras, in diesen Saal, direkt in unsere Wohnzimmer und traf mein Innerstes: «Es lebe die türkisch-kurdische Brüderlichkeit!», fügte sie auf Kurdisch hinzu.
Diese wenigen Worte, dieser Wunsch nach Brüderlichkeit in der verbotenen Sprache, genügte, um sie zur Staatsfeindin zu erklären. Leyla Zana wurde zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt und verbrachte fast ein Jahrzehnt im Gefängnis. Ihr Auftritt war eine Offenbarung: Als kurdisches Kind in der Schweiz, das gelernt hatte zu flüstern, sah ich in ihrer Unbeugsamkeit die erste Tür, die sich in einer Mauer öffnet. Als würde mir Leyla Zana die Hand reichen und zurufen: «Lass dir das Recht auf dein Sein nicht verbieten!»
In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Sehnsucht.