In mir die Wände (3) : Räuber und Poli

Nach unserer Ankunft im Rheintal war der Park vor unserer Wohnung zu meinem Lebensmittelpunkt geworden. Wir spielten stundenlang Fussball, alberten herum, liessen Drachen steigen, fuhren Velorennen drumherum, krochen durch die Röhren. In dieser Gemeinde an der Grenze zu Österreich spielten die Kinder ihre lokale Variante von Räuber und Poli: Polizist:innen bewachten die Grenze, Räuber:innen versuchten, sie zu überqueren, ohne dabei erwischt zu werden.
Wir wohnten im Dachstock eines alten Hauses an der Rosenstrasse. Den mittleren Stock hatte die Besitzerfamilie ausgebaut und lebte dort in einer modernen Wohnung. Darunter bewohnte ein alleinstehender Albaner eine kleine Einheit. Die Familie Rüesch hatte beide Wohnungen der Gemeinde als Sozialwohnungen vermietet – vermutlich auch, weil sie so heruntergekommen waren, dass niemand freiwillig lange dort gelebt hätte. Vielleicht aus Mitgefühl, vielleicht aus schlechtem Gewissen steckten uns die Rüeschs immer wieder einen Teil der Miete zu, die sie von der Gemeinde erhielten. Es waren jeweils ein paar Hundert Franken, aber in unserer Situation zählte jeder. Die Rüeschs waren nicht nur freundlich, sie waren solidarisch. Waren sie Räuber:innen?
Egal wann wir nach Hause kamen: Im Nachbarhaus stand immer Herr Gehringer am Fenster, blinzelte hinter dem Vorhang hervor, von dem er glaubte, er mache ihn unsichtbar. Das begann am ersten Tag unserer Ankunft und hörte erst sieben Jahre später auf, als wir wegzogen. Er sprach nie ein Wort mit uns. Manchmal stand er mit Stift und Papier am Fenster, blickte hinunter und machte sich Notizen. Manchmal schien er zu fluchen, auf die Zähne beissend, den Mund zur Schrotflinte geformt. Und manchmal stand er einfach da, die Haare zum Seitenscheitel gekämmt, und wirkte befriedigt. In meiner Erinnerung trägt er immer dasselbe burgunderrote Cordhemd – oder war das doch nur der Vorhang? Gehringer war auf jeden Fall Polizist.
Spielen ist vielleicht die schönste Tätigkeit der Welt. Erwachsene zahlen in Meditationskursen und Yogastudios teures Geld dafür, sich wieder anzutrainieren, was sie im Lauf ihres Lebens verlernt haben: sich zu vergessen. Ich wurde früh zum Denken gezwungen, und ich verstand: Räuber und Poli ist nie nur ein Spiel, es ist viel eher eine erste Lektion darin, wie diese Welt funktioniert. Und die Rolle, die man in ihr spielt, können sich nicht alle selbst aussuchen.
In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Anderssein.