Durch den Monat mit Joe Bürli (Teil 3): Wie fanden es Ihre Pflegeeltern, dass Sie schwul sind?

Nr. 16 –

Wie Joe Bürli als Fünfzehnjähriger das Basler Nachtleben entdeckte, die gesellschaftlichen Aufbrüche in den Siebzigern erlebte – und was er über die verschiedenen Phasen der Schwulenbewegung denkt.

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Joe Bürli mit seinen Hunden Jimmy und Flynn
«Meine Pflegemutter meinte zuerst: ‹Das geht wieder vorbei›»: Joe Bürli mit Jimmy, dem «kleinen Gescheiten», und Flynn, dem «grossen Schönen», auf der Zürcher Josefwiese. 

WOZ: Joe Bürli, letzte Woche tönten Sie an, wie Sie mit vierzehn Ihre Sexualität entdeckten.

Joe Bürli: Ja, ich entdeckte mein Schwulsein.

WOZ: War das ein Problem?

Joe Bürli: Nein, nie. Weil ich es als natürlich empfand. Ich war ja auch nicht plakativ schwul. Einfach etwas anders.

WOZ: Und wie reagierten Ihre Pflegeeltern?

Joe Bürli: Meine Pflegemutter meinte zuerst: «Das geht wieder vorbei.» Doch als sie mir in ihrer Beiz den Martini-Vertreter vorstellen wollte und ich ihn vertraulich mit «Sali, Walti!» begrüsste, war es auch für sie klar. Schlimm aber fand sie es nicht. Noch etwas später, als sie von der Basler Polizei einen besorgten Anruf erhielt, nachdem die mich in einem Park aufgegriffen hatten, sagte sie nur: «Ja, kein Problem, der ist bei seinem Freund.» Fall erledigt.

WOZ: Was zog Sie nach Basel?

Joe Bürli: Die Disco. Während der Lehre im Oltner Fotofachgeschäft düste ich fast jedes Wochenende dahin. In der dortigen Schwulenszene kam ich auch in Berührung mit Leuten aus Ballett, Theater und Oper.

WOZ: Als Fünfzehnjähriger – mit Erwachsenen?

Joe Bürli: Ja, in den Siebzigern, im Nachgang der 68er-Bewegung, waren erotische Beziehungen mit Minderjährigen für viele Erwachsene eine Art Kavaliersdelikt. Zwar wusste man, dass das nicht in Ordnung ist – sagte sich aber: Wenn es der Junge oder das Mädchen auch will, stimmt das doch.

WOZ: Wie aber war das für Sie?

Joe Bürli: Ich war nie ein Opfer. Ich sagte mir: Wenn ich in die Opernwelt reinkommen will, dann am besten über jemanden im Ensemble. Dazu habe ich mein Aussehen bewusst eingesetzt. Aufgrund meiner Wissensgier reizte mich aber mehr der geistige Austausch. Es ging mir nicht um die Nähe zu Stars. Ein Vorhangschieber konnte mich weit mehr faszinieren.

WOZ: Das klingt alles recht harmlos. Finden Sie Pädophilie unproblematisch?

Joe Bürli: Natürlich nicht. Ein Mädchen oder ein Bub kann ja kaum abschätzen, wie gross die Gefahr ist, missbraucht zu werden – und womöglich lange darunter leiden zu müssen. Deshalb ist es wichtig, dass Sex mit Minderjährigen verboten ist. Ich selber hatte Glück. Ich war relativ reif und fühlte mich sogar eher am längeren Hebel. So konnte ich durch diese Bekanntschaften meinen Horizont erweitern. Ab den späten Siebzigern auch in Zürich.

WOZ: Rechtzeitig zur Achtzigerbewegung?

Joe Bürli: Nein, da war ich noch nicht so politisiert. Ausser dass ich für die Konzession von Radio 24 mitdemonstrierte, interessierten mich vor allem die Rechte der Homosexuellen – und die Partyszene. Am liebsten war ich im «Panthera», einem Travestielokal im Kreis 4, wo jeden Abend acht Künstler aus Frankreich auftraten. Das war damals neu für Zürich.

WOZ: In Ihrer Autobiografie erfährt man von vielen Begegnungen, die Sie geprägt haben. Etwa, wie Sie 1981 in Los Angeles mit Nina Hagen im gleichen Appartement wohnten.

Joe Bürli: Eine wunderbare Frau! Ganz allgemein waren jene Jahre eine Zeit der Aufbrüche. Eine Zeit auch, da immer mehr Bereiche der Kultur von Schwulen geprägt wurden. Nur dass es viele nicht merkten.

WOZ: Wie meinen Sie das?

Joe Bürli: Ob David Bowie, Freddie Mercury, die Village People, Elton John, Andy Warhol oder Lou Reed: Wir Gays wussten alle, dass sie homo- oder bisexuell sind – nur dass sie der Masse nicht als das verkauft wurden. Auch viele andere haben zwar ihre Kunst konsumiert, aber den Hintergrund dieser Kulturrevolution schnallten sie nicht. Gleichzeitig wurde Schwulsein gesellschaftlich immer akzeptierter – bis in die frühen Achtziger, als wegen der hohen Verbreitung des HI-Virus unter Schwulen plötzlich wieder ein Stigma entstand.

WOZ: Wie muss man sich diese Zäsur vorstellen?

Joe Bürli: Offene Türen waren plötzlich wieder zu. Weil viele sich plötzlich fragten: Kann man mit Schwulen noch Fondue essen? Die Kinder zu so einem Lehrer schicken? Das ging so weit, dass Professoren vorschlugen, uns mit einem Stempel markieren zu lassen – während wir erlebten, wie Freunde sterben.

WOZ: Wie war das für Sie persönlich?

Joe Bürli: Für mich selber war es nicht so schlimm, weil ich ab zwanzig immer fest liiert war und mit dem Virus nie näher in Kontakt kam. Die Schwulenbewegung generell aber wurde um Jahre zurückgeworfen. Das hat sich dank immer besserer Medikamente erst in den Neunzigern wieder entspannt.

WOZ: Und heute?

Joe Bürli: Gibts ja fast keine Schwulenbars mehr. Was auch gut ist: Durch die wiedererlangte Akzeptanz muss man sich nicht mehr so absondern. Und äusserlich wirkt heute ja manch Heterosexueller fast schwuler als ein Durchschnittsschwuler. Umso heftiger ist die Gegenbewegung. In letzter Zeit erhalten queerfeindliche Strömungen bekanntlich wieder Auftrieb. Das ist hochgefährlich.

Joe Bürli (62) arbeitete ab den Achtzigern im Gastgewerbe. 1995 wechselte er in den Kiosk Quellenstrasse im Zürcher Kreis 5. Ende März hat er den Laden Azim Khaleghi übergeben. Im Kiosk ist auch Bürlis Buch «Der Bub hat nichts Italienisches an sich» erhältlich.