Durch den Monat mit Joe Bürli (Teil 1): Ist der Kiosk ein demokratischer Raum?
Nach über zwanzig Jahren übergibt der Kioskbetreiber Joe Bürli seinen Laden in neue Hände. Für viele im Zürcher Kreis 5 geht damit eine Ära zu Ende.

Vor allem für ältere Quartierbewohner gehörte ein Besuch zur Tagesstruktur.»
WOZ: Joe Bürli, Anfang Woche übergaben Sie Ihrem Nachfolger Azim Khalegi die Schlüssel für den Kiosk Quellenstrasse – nach zwanzig Jahren. Und nachdem Sie hier schon mal in den Neunzigern beschäftigt waren. Wie schauen Sie auf diese Zeit zurück?
Joe Bürli: In den Neunzigern war das ein sehr rudimentärer Laden. Der Kiosk, der Anfang Achtziger eröffnet wurde, bestand aus nicht viel mehr als einer Theke und einem Kühlschrank. Bis in die Sechziger war hier noch ein Kontor, wo man Kohle oder Öl kaufen konnte. Das Haus steht übrigens unter Denkmalschutz. Gebaut hat es 1928 ein Steinmetz. Dazu gibt es eine spezielle Geschichte.
WOZ: Erzählen Sie.
Joe Bürli: Ich sass auf einer Bank an der Tramhaltestelle und liess meinen Blick zur Fassade des Hauses schweifen. Da fiel mir auf, dass alle Fensterrahmen, Balkone und Dacherker unterschiedlich verziert sind – in verschiedensten Grössen und Formen. Ich dachte mir, dass der Steinmetz, als er sie entwarf, wohl einen kreativen Höhenflug hatte. Im Stadtarchiv entdeckte ich dann, dass er das Gebäude als Musterhaus gebaut hatte: War eine Bauherrin unentschlossen, welche Form sie wollte, schickte er sie einfach an die Limmatstrasse 197.
WOZ: Übernommen haben Sie den Kiosk 2005.
Joe Bürli: Ja. In den Neunzigern war die Heroinszene um Platzspitz und Letten noch überall zu spüren. Menschen unter permanentem Beschaffungsstress waren omnipräsent. Mit der Umgestaltung von Zürich West hat sich das Quartier rasant verändert. Wir nannten es die Seefeldisierung des Kreis 5.
WOZ: Wie hat sich das auf den Kiosk ausgewirkt?
Joe Bürli: Es gab immer mehr Büros im Quartier. Ich habe mich auf Angestellte spezialisiert: Zmorge, Znüni, Zvieri. Mit Corona fand das ein jähes Ende. Der Anteil jener, die Homeoffice machen, ist immer noch ein Drittel höher als zuvor. Die Leute rauchen auch weniger, es wird weniger analog gelesen – und es gibt immer mehr Detaillisten. In zwanzig Jahren wird es so einen Kiosk kaum mehr geben. Das wäre ein herber Verlust.
WOZ: Inwiefern?
Joe Bürli: Ich habe den Kiosk immer auch als soziokulturellen Treffpunkt verstanden. Vor allem für ältere Quartierbewohner gehörte ein Besuch zur Tagesstruktur. Aber finanziell hat sich das für mich immer weniger ausgezahlt. So einen Laden zu betreiben, funktioniert wohl langfristig nur noch als Familienbetrieb. Ich hoffe sehr für Azim, das es funktioniert.
WOZ: Mit ihm werden wir in den nächsten Wochen auch sprechen. Zuerst aber: Wie hat sich das Publikum im Lauf der Jahre verändert?
Joe Bürli: Bis in die Neunziger waren es vor allem Arbeiter, auch viele ausländische. Dann kamen die Yuppies. Erst habe ich da schon etwas die Nase gerümpft. Doch auch mit solchen Leuten kommt es zu spannenden Begegnungen. Ich habe mich immer für andere Ansichten interessiert. Der Kiosk ist für mich auch ein pluralistischer Ort. Natürlich lag es auch in meinem geschäftlichen Interesse, möglichst viele Leute anzusprechen. Ich hab da einen gewissen Blick für die Leute. Das habe ich gezielt eingesetzt.
WOZ: Wie zum Beispiel?
Joe Bürli: Ich wusste immer: Ich muss den Leuten das Gefühl geben, wir seien etwas Besonderes. Fünfzehn Jahre lang gestaltete ich jeden Monat ein Schaufenster zu unterschiedlichsten Themen, das sprach ganz verschiedene Leute an. Zusammen mit einer Kuratorin machte ich Ausstellungen mit Einzelkünstlerinnen. Und um den Kunden das Gefühl zu geben, Teil dieses Ortes zu sein, liess ich sie über unser neues Logo abstimmen. Einmal gestaltete ich eine Wand mit Wimmelbild, auf dem man sich mit einem Foto präsentieren konnte. Das förderte das Zusammengehörigkeitsgefühl. Wer nicht drauf war, dachte sich: Warum nicht auch ich?
WOZ: Der Kiosk als demokratischer Raum …
Joe Bürli: Ja, und als Ort der Meinungsvielfalt.
WOZ: Auch die WOZ ist prominent platziert. Vor der Kasse – und neben dem Eingang mit zwei Plakaten. Gleichzeitig legen Sie auch die «Weltwoche» auf. Wo liegen Ihre Sympathien?
Joe Bürli: Schon mehr bei der WOZ. Es ist aber auch ein wirtschaftlicher Gedanke, warum ich Wochenzeitungen so prominent platziere: Es bringt mir nichts, ein Zwei-Franken-Heftli so aufzulegen. Die «Weltwoche» entspricht zwar nicht unbedingt meinen Ansichten, aber als Gegenpol gehört sie für mich auch dazu. Ich will niemanden ausgrenzen. Es ist für mich spannend, mit jemandem zu diskutieren, der die «Weltwoche» kauft und über die Frontseite der WOZ schimpft – und umgekehrt.
WOZ: Wie kommt die WOZ an?
Joe Bürli: Am besten mit Titelstorys, die nicht allzu ideologisch sind. So wie letzthin die über die «Wunderdroge Ketamin». Solche Themen interessieren auch Leute, die sich nicht als links verstehen.
WOZ: Kam es schon vor, dass sich Kund:innen über die prominente Präsenz der WOZ nervten?
Joe Bürli: Nein. Schon eher über die «Weltwoche». Es gab auch schon solche, die sagten, dass sie nicht mehr kommen würden, wenn ich die weiter so prominent auflege.
Im Herbst 2024 hat Joe Bürli (62) seine Autobiografie veröffentlicht: «Der Bub hat nichts Italienisches an sich» (Eigenverlag, Zürich 2024). Sie ist auch im Kiosk Quellenstrasse erhältlich.