Krieg gegen die Ukraine: Welche Wirklichkeit?
Diesmal traf es jemanden, den ich flüchtig kannte. David Chichkan (39), Künstler, Anarchist, hatte sich letztes Jahr freiwillig für die Armee gemeldet – angeleitet von jenen Überzeugungen, die ihn sein politisches Leben lang prägten. In Russlands Krieg gegen die Ukraine sah er das Vorgehen eines faschistisch-imperialen Staates.
Am Samstag wurde Chichkan, als Mörserschütze im Einsatz, an der Front in der Region Saporischschja schwer verwundet, so schreiben es seine Gefährt:innen vom Resistance Committee, wenige Stunden später ist er gestorben. 221 ukrainische Kulturschaffende, so hat es eine Initiative gezählt, sind seit Beginn der Vollinvasion von russischen Streitkräften getötet worden. Chichkan hinterlässt seine Partnerin und einen kleinen Sohn.
In eine Künstler:innenfamilie hineingeboren, machte er Kunst, die den Geist seiner Überzeugungen atmete: Bilder, Plakate, die linke Denkarten literarischer Galionsfiguren hervorhoben, den Nationalismus der ukrainischen Gesellschaft anprangerten und die Auseinandersetzung mit den dunklen Geschichtskapiteln nicht scheuten. Wandmalereien zuletzt, die den Krieg in all seinen Facetten thematisierten. David Chichkan machte auch Kunst, die Nationalist:innen provozierte: Mehrfach griffen Rechtsradikale seine Ausstellungen an, die letzte in Odesa musste nach einer hässlichen Kampagne ganz abgesagt werden. Den Eintritt in die Armee sah er als Fortsetzung seines antifaschistischen Kampfes.
Warum erzähle ich das? Weil es die brutale Wirklichkeit eines Krieges ist, in den Menschen wie Chichkan gezwungen werden. Am Freitag, wenn Wladimir Putin und Donald Trump sich in Alaska treffen, soll es ebenfalls um die ukrainische Kriegswirklichkeit gehen. Tatsächlich aber wird aus maximal sicherer Distanz primär grossen Egos geschmeichelt. Zwei mächtige Männer, die per Handschlag die Geschicke der Welt lenken – so sehen Trump und Putin sich selbst. In zumindest einer Annahme sind sich die beiden Machthaber einig: dass ein Verhandlungstisch bloss Platz für zwei hat, und einer davon ist man selbst. Die Ukraine ist daher ebenso wenig vertreten wie ihre europäischen Verbündeten.
Von einem «Austausch von Gebieten» ist im Vorfeld die Rede, was nichts anderes bedeutet, als dass der Aggressor belohnt wird. Darauf, dass der Kreml zu Kompromissen bereit ist, finden sich keinerlei Hinweise. Ohnehin ist Putin der Einzige, dem der Gipfel Nutzen bringt: Endlich wieder kann er vor den Augen der Welt auf Augenhöhe mit den USA sprechen.
Sinnbildlich dafür steht der Austragungsort: Weder auf dem Weg nach Alaska noch in den USA selbst muss Putin, der für seine Kriegsverbrechen per internationalem Haftbefehl gesucht wird, eine Verhaftung fürchten. Symbolisch ist der Ort des Gipfels aber noch aus einem anderen Grund: Als die Kolonialmacht Russland Alaska 1867 für sieben Millionen US-Dollar den USA überliess, durfte die indigene Bevölkerung nicht mitreden. Nun soll ein ähnlich kolonialer «Deal» die Zukunft der Ukraine entscheiden.
Völkerrechtlich legitim wäre eine solche Vereinbarung – wie sie auch aussehen mag – nicht. Im Gegenteil würde sie, wie derzeit auch Israels Krieg gegen die Palästinenser:innen, das internationale Recht nur weiter schwächen. Wiederholt hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bekräftigt, dass er keine Gebiete an Russland abtreten möchte. Gemäss der ukrainischen Verfassung müsste sich zu einem solchen Schritt sowieso die Bevölkerung äussern; dass eine Mehrheit dazu bereit wäre, ist nicht anzunehmen. Bei den besetzten Gebieten geht es schliesslich nicht nur um Land – Millionen Menschen würden einem Leben unter russischer Gewaltherrschaft ausgeliefert.
Dem Gebaren zweier Egomanen etwas entgegensetzen können die Europäer:innen, indem sie die Ukraine glaubhaft ihrer Unterstützung versichern. Das Hoffen auf einen Sitz am Tisch in Alaska hat sich – wie die Idee einer US-garantierten Sicherheit – als Schimäre erwiesen. Schöne Worte über einen gerechten Frieden sind nur dann etwas wert, wenn sie von einer Vorstellung begleitet werden, wie ein solcher gesichert wäre. Damit Menschen, Künstler, Väter wie David Chichkan ihr Leben nicht umsonst verloren haben.