Falsche Freunde
Entgeistert stand ich in den siebziger Jahren, zu Beginn meines Austauschjahrs in den USA, vor der Auslage der Unimensa: Die Rüebli waren viel zu rot, die Erbsen zu grün, die Salatsauce breiig und süss, das viereckige Brot weich wie Watte. Nichts sah aus und schmeckte wie richtiges Essen.
Der Kulturschock hat sich gelegt. Mittlerweile gibt es auch in der Schweiz jede Menge Industriefood. Und in den USA ist das Angebot an wenig verarbeiteten Lebensmitteln selbst in den Schulkantinen reichhaltiger geworden. Doch die USA erlauben immer noch viele Konservierungs-, Farb- und Süssstoffe in der Nahrung, die in Kanada oder Europa längst verboten sind. Und die Landwirtschaft, die Feldfrüchte wie Mais und Soja, Weizen, Hirse und Hafer produziert, sprüht weiterhin ausgiebig Pestizide wie Glyphosate (von Monsanto, jetzt Bayer, Gebrauch in der EU eingeschränkt) und Atrazine (von Syngenta, in der EU seit zwanzig Jahren verboten). «Wir vergiften eine ganze Generation von Kindern», sagte der neue US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy jr. Anfang Jahr anlässlich seiner Anhörung vor dem US-Senat.
Wenn der ehemalige Umweltanwalt Kennedy lautstark gegen die grossen Pharma-, Agro- und Lebensmittelunternehmen wettert, tönt er wie ein Freund von linken und grünen Anliegen (schliesslich war er selbst jahrzehntelang ein Linksliberaler und Grüner). Man möchte für einen Moment vergessen, wie viel Unsinn der Verschwörungstheoretiker und radikale Impfgegner, der sogar den Polioschutz infrage stellt, in den letzten Jahren verbreitet hat.
Man möchte gern übersehen, dass auch Kennedys neuester MAHA-Bericht – eine Untersuchung zur «Wiederherstellung der Gesundheit Amerikas» («Make America Healthy Again») –, der die Gesundheit der US-Bevölkerung zu Recht durch schlechte Luft, verseuchtes Wasser und unnötige Medikamente gefährdet sieht, einer faktischen Prüfung nicht standhält. Natürlich wertet Kennedy jede Kritik des Berichts als Verschwörung der etablierten Wissenschaftsgemeinde. Er will den Wissenschaftler:innen in seinem Gesundheitsministerium verbieten, weiterhin in hochangesehenen Fachpublikationen zu publizieren. Und stattdessen ein eigenes MAHA-Medium auf die Beine stellen.
«Meine Meinung bezüglich Impfungen ist irrelevant», sagte der neue Gesundheitsminister, als ihn US-Kongressmitglieder befragten, «ich glaube nicht, dass die Leute von mir medizinische Ratschläge annehmen sollten.» Das tönt auf den ersten Blick sympathisch bescheiden, schliesslich hat Kennedy nie Medizin studiert. Trotzdem ist er jetzt Gesundheitsminister, und sein Wort hat nicht bloss symbolisch Gewicht. Wenn er eine Impfung, ein Arzneimittel oder einen medizinischen Eingriff nicht mehr empfiehlt, werden die Krankenversicherungen diese medizinischen Leistungen vermutlich nicht mehr vergüten. Das gilt bereits für die Covid-Impfung. Auf der Abschussliste ist auch die Behandlung von Genderdysphorie, ein Lieblingsfeind nicht bloss der Trump-Regierung. Auch Kennedy hat öffentlich gemunkelt, da Chemikalien wie Atrazine «Frösche zwangsfeminisieren», könnten sie auch für die Entwicklung von Transidentität verantwortlich sein.
Das US-amerikanische Gesundheitssystem ist teuer und zeitigt miese Resultate, das heisst: Es ist äusserst reformbedürftig. Wer wünschte sich nicht einen unerschrockenen Robin Hood, der den Kampf gegen die Pharmamonster, Nahrungsriesen und Agrobarone aufnimmt. Doch Robert F. Kennedy ist kein solcher Held. Er hat bisher vor allem Massenentlassungen in seinem Ministerium zugelassen und Wissenschaftsgelder gekürzt. Und er, der ehemals kämpferische grüne Anwalt, hat geschwiegen, als die US-Umweltschutzbehörde EPA im März die Regeln für Quecksilberemissionen lockerte. Als Nächstes wird der Gesundheitsminister wohl mitansehen müssen, wie wegen Donald Trumps Steuergeschenken an die Reichen Millionen von Menschen in den USA ihre Krankenversicherung und ihre Lebensmittelmarken verlieren.
Ob die Rüeblikonserven und Frühstücksringli in den USA in Zukunft weniger farbig sein werden, ist hingegen eher ungewiss. Noch gibt es kein Verbot schädlicher künstlicher Farbstoffe. Vielmehr einigte sich der von Trump ernannte Robert F. Kennedy jr. mit der Nahrungsindustrie «auf freiwilliger Basis».