Loïc Bawidamann: Was tun gegen Verschwörungserzählungen?
Der Staat als Feind oder weshalb sich auch Linke in kruden Theorien verlieren können.

WOZ: Loïc Bawidamann, wo stehen wir gerade?
Loïc Bawidamann: Das ist eine sehr gute Frage – gerade wenn es um Verschwörungstheorien geht. Vor allem in den USA sitzen Personen, die man früher klar als Verschwörungstheoretiker:innen hätte abtun können, jetzt in Machtpositionen. Das unterläuft das ganze Konzept von Verschwörungstheorien.
WOZ: Inwiefern?
Loïc Bawidamann: Verschwörungstheorien richten sich in der Regel gegen Wissensautoritäten, also gegen Institutionen, Behörden, etablierte Medien. Wenn solche Institutionen in die Hände von Personen geraten, die bislang als Verschwörungstheoretiker:innen galten, verschiebt sich auch die dominante Art von Wissen. Und das wirft grundsätzliche Fragen auf. Welche Linien kann man überhaupt noch ziehen, welche Seiten ausmachen in diesem Grabenkampf?
WOZ: Dem Grabenkampf um das dominante oder auch faktisch belegbare Narrativ?
Loïc Bawidamann: Genau. Wobei die Faktenlage im Diskurs um Verschwörungstheorien meist gar nicht mehr relevant ist – es geht vielmehr darum, wer wem eine solche Theorie unterstellen kann. Und hier sehen wir aktuell eine einschneidende Verschiebung.
WOZ: Was bedeutet das?
Loïc Bawidamann: Zum einen müssen wir uns als Gesellschaft fragen, welches Wissen gültig sein soll, welches Wissen wir verteidigen wollen, wofür wir uns allenfalls auch gegen die Regierung stellen müssen, so, wie es die US-Universität Harvard aktuell tut. Zum andern müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass nicht alle an dasselbe Wissen glauben und dass dies auch schwerwiegende Folgen haben kann, wie gerade der aktuelle Masernausbruch in Texas zeigt …
WOZ: … und das unter einem Gesundheitsminister, der auch mit radikalen Verschwörungstheorien rund ums Impfen aufgefallen ist.
Loïc Bawidamann: Das ist Robert F. Kennedy Jr. tatsächlich. An einer massnahmenkritischen Coronademonstration Anfang 2022 erzählte er nicht nur von gefährlichen Impfungen, die Krankheiten wie Autismus auslösten, sondern er verband das mit der Behauptung, Regierung und Pharmakonzerne wollten mit Impfungen die totale Kontrolle über die Bevölkerung erlangen. Kennedy verglich das sogar mit dem Dritten Reich. Seit er selbst in der Regierung sitzt, beginnt er allerdings zurückzurudern.
WOZ: Gibt es historische Konjunkturzeiten für Verschwörungstheorien – und leben wir aktuell in einer solchen?
Loïc Bawidamann: Ich würde vielleicht eher von Konjunkturzeiten für Diskussionen über Verschwörungstheorien reden; Zeiten, in denen man sie als Problem wahrnimmt. Covid ist ein gutes Beispiel dafür: Impfkritik gibt es, seit es Impfungen gibt – aber im Moment, wo eine Impfung im Brennpunkt der Öffentlichkeit steht, wird Impfskepsis zum gesellschaftlichen Thema. Nicht weil alle plötzlich zu Anhänger:innen von Verschwörungstheorien geworden wären – es gibt auch andere Gründe, sich nicht impfen lassen zu wollen. Aber plötzlich beschäftigten sich alle mit dem Thema.
WOZ: Täuscht der Eindruck, dass Verschwörungstheorien vor allem in rechten Kreisen zirkulieren?
Loïc Bawidamann: Ein bisschen täuscht der Eindruck schon. Nehmen Sie Gesundheitsminister Kennedy als Beispiel: Der war früher Umweltaktivist. Auch im Fall der Proteste gegen die Coronaimpfung ist die Lage komplizierter. Viele, die plötzlich Verschwörungstheorien verbreiteten, waren zuvor links Wählende gewesen. Die Rolle der Rechten bestand vor allem darin, das Verschwörungsangebot bereitzustellen. So fanden Linke und Rechte in der empfundenen Notwendigkeit zusammen, sich gegen staatliche Massnahmen zu wehren.
WOZ: Verschwörungsnarrative vermögen also politische Grundhaltungen zu übersteuern?
Loïc Bawidamann: Vielleicht nicht zu übersteuern, in den Details ist man sich noch sehr uneins, aber man einigt sich auf übergeordnete Themen, auf den bösen Staat als Feind zum Beispiel. Aus linker Perspektive ist man gegen den Polizei- und Überwachungsstaat, bei Rechten liegen die Gründe ganz woanders.
WOZ: Können wir aus dem Diskurs um Verschwörungstheorien auch etwas lernen?
Loïc Bawidamann: Bildung hilft! Gerade die Wissenschaft sollte sich stärker bemühen, Dinge so zu erklären, dass es möglichst viele verstehen, und dabei auch unangenehme Fragen zulassen. Und als Gesellschaft müssen wir es irgendwie schaffen, uns gegenseitig wieder mehr zu vertrauen in Bezug auf das je spezifische Wissen, das eine andere Person mitbringt. Vielleicht tun wir auch gut daran, Menschen zuzuhören, die Verschwörungstheorien verbreiten. Denn einerseits finden sie nur im Kontakt mit Andersdenkenden wieder aus ihrer Echokammer raus, andererseits verstecken sich hinter ihrem Narrativ oft Probleme, die man ernst nehmen sollte, weil sie nicht unbedingt Teil einer Verschwörungstheorie sind.
Loïc Bawidamann forscht am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich zu Verschwörungstheorien und ihren gesellschaftlichen Bezügen. Ausserdem spielt er Bass in der Band Pedestrians.