Internationalismus: Die Zukunft imaginieren

Nr. 16 –

In Brüssel trafen sich 300 Mitglieder der russischen Antikriegsbewegung zum klandestinen Kongress – die WOZ war exklusiv dabei.

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Protest in Zürich am Jahrestag der Vollinvasion der Ukraine
Lauten Protest gegen Russlands Krieg kann es nur ausserhalb des Landes geben – wie hier in Zürich am Jahrestag der Vollinvasion der Ukraine. Foto: Michael Buholzer, Keystone

«Die meisten von euch haben ja meine Nummer», ruft Marijana Kazarowa in den voll besetzten Saal. «Meldet euch bei mir! Ich werde mein Bestes tun, um euch zu helfen – inner- und ausserhalb meines Mandats!» Kazarowa ist Uno-Sonderberichterstatterin zur Menschenrechtslage in Russland – eine Position, die erst nach Beginn der russischen Vollinvasion der Ukraine geschaffen wurde. An diesem sonnigen Apriltag spricht sie im Kellergeschoss eines Kongresszentrums im Norden von Brüssel zu russischen Kriegsgegner:innen.

Die meisten von ihnen wissen ganz genau, welche Folgen der Widerstand gegen Wladimir Putins Regime haben kann; viele bekamen die Repression von dessen Sicherheitsapparat am eigenen Leib zu spüren, wurden verfolgt oder inhaftiert. Mit Marijana Kazarowa wissen sie immerhin eine gewichtige Fürsprecherin an ihrer Seite. «Die Zukunft wird nur eintreten, wenn wir sie uns vorstellen – und das hier ist der Ort, an dem wir das tun», sagt die bulgarische Bürgerrechtlerin und Journalistin.

Kazarowas Rede bildet den Auftakt zum zweitägigen Kongress des Netzwerks Platforma, unter dessen Dach über hundert Antikriegsinitiativen und Aktivist:innen versammelt sind: Ein Teil davon operiert weiterhin in Russland, die meisten aber sind aus dem Exil heraus tätig. Auf der Bühne hängt das Leitmotiv des Bündnisses: gemeinsam für die Ukraine und für Freiheit einstehen. Davor sitzen rund 300 Personen: Aktivistinnen aus Russland und ukrainische Menschenrechtler, Vertreter:innen der EU und einzelner Mitgliedstaaten.

Dass dieses Einstehen Gefahren birgt, ist am klandestinen Charakter des Treffens mit seinem ausführlichen Sicherheitsprotokoll abzulesen: Den Austragungsort erfahren die Teilnehmer:innen erst wenige Stunden vor Tagungsbeginn – weder darf er in der Zeitung stehen, noch sind Aufnahmen erlaubt. Wer dabei sein will, braucht persönliche Empfehlungen von zwei Platforma-Mitgliedern.

Linker Gegenpol

Draussen vor dem Eingang erzählt Katja Moroko von den Anfängen eines besonderen Projekts. Die 29-Jährige stammt aus Kasachstan, zog dann zum Journalismusstudium nach Moskau, schrieb später für das studentische Onlineportal «Doxa». Als vier ihrer Redaktionskolleg:innen angeklagt wurden, flüchtete sie nach Georgien.

Heute lebt Moroko in Berlin, wo auch Platforma 2022 gegründet wurde. «Foren für die russische Opposition existierten damals schon, die meisten unter der Ägide liberaler Politiker. Wir aber wollten einen Gegenpol bilden – eine linke, dekoloniale Alternative, die als eigenständiger zivilgesellschaftlicher Akteur Bewegungen und Basisgruppen vereint», erklärt sie.

Der Kongress in Brüssel ist bereits der dritte seiner Art. Und er ist ein guter Ort, um der russischen Antikriegsbewegung den Puls zu fühlen. Viele seien nach drei Jahren Angriffskrieg müde, sagt Moroko: zu wenige Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, zu wenig Ressourcen, viele Burn-outs und programmatische Differenzen. Von Müdigkeit sprechen in den zwei Tagen viele hier; andere beklagen das Fehlen einer kollektiven Vision. Was aus der Antikriegsbewegung werde, wenn der Krieg zu Ende sei, fragt jemand. Die meisten scheinen zu glauben, dass es dann erst recht viel zu tun gibt.

Nach einem Ende des Krieges sieht es derzeit ohnehin nicht aus, zumindest lässt das russische Regime keinen Willen dazu erkennen. Zuletzt schockierten zwei Angriffe die Weltöffentlichkeit: Vor zwei Wochen starben in der Industriestadt Krywyj Rih zwanzig Zivilist:innen, darunter Kinder auf einem Spielplatz. Am Sonntag schlugen dann im Zentrum von Sumy zwei russische Raketen ein, töteten über dreissig Menschen, verletzten mehr als hundert.

«Menschen verschwinden einfach»

Die Ahndung russischer Kriegsverbrechen ist denn auch eines der Hauptthemen des Kongresses. «Wirklicher Frieden ist erst möglich, wenn die Täter:innen zur Verantwortung gezogen, die Leidtragenden gehört werden», sagt Uno-Vertreterin Kazarowa in ihrer Rede. Vom Konzept einer Übergangsjustiz ist vielfach die Rede, einem Prozess zur Aufarbeitung von vergangenem Unrecht, der die Grundlage legen soll für eine langfristige Aussöhnung. Auch das Platforma-Netzwerk hat eigens eine Arbeitsgruppe eingerichtet.

Von gesellschaftlicher Aussöhnung zwischen Russ:innen und Ukrainer:innen kann derzeit keine Rede sein, das wissen die meisten hier – ein Projekt für die nächsten Generationen. Aus kollektiver Verantwortung erwächst aber auch die Pflicht zum Handeln im Jetzt. Eine Anwesende drückt es so aus: «Wir haben unser Land verloren, unsere Würde. Wir sind es, die die Täter:innen zur Verantwortung ziehen müssen. Fangen wir an, Beweise für ihre Verbrechen zu suchen.»

Dass dennoch auch ukrainische Menschenrechtler:innen nach Brüssel gekommen sind, ist bereits ein Erfolg, das betont Platforma später auch in einer Mitteilung: «Die Zusammenarbeit mit den Ukrainer:innen ist eines der wichtigsten Kongressergebnisse.» Ein konkretes Kooperationsfeld ist dabei der Kampf um «Zehntausende Menschen, die Russland derzeit gesetzeswidrig festhält»: ukrainische Kriegsgefangene und verschleppte Zivilist:innen, darunter bis zu 20 000 Kinder, aber auch die über 1400 politischen Gefangenen in Russland selbst.

«Menschen verschwinden einfach, nicht mal das IKRK weiss, wo sie sind. Manche tauchen irgendwann in einem Gefängnis auf, viele gar nicht mehr», berichtet Michail Sawwa vom Kyjiwer Zentrum für bürgerliche Freiheiten, zugeschaltet aus der ukrainischen Hauptstadt. Sawwa fordert Sanktionen gegen involvierte Einzelpersonen und Organisationen, das russische Verteidigungsministerium etwa oder die Militärpolizei: «Wir geben unsere Listen gerne an die europäischen Behörden weiter.» Eine andere Forderung, die am Kongress geäussert wird: dass im Zentrum aller Friedensverhandlungen nicht nur Territorien oder natürliche Ressourcen stehen, sondern auch die Freilassung aller Kreml-Geiseln.

Fenster der Möglichkeiten

Die in Brüssel vertretenen Initiativen sind so vielfältig wie die Themen, mit denen sie sich befassen. Eines davon ist die Desertion als Widerstandsform. Eine überwältigende Mehrheit aller Kriegsdienstverweigerer verbleibe in Russland – etwa, weil sie nicht über die für eine Flucht notwendigen Dokumente verfügten, beklagen die anwesenden Expert:innen. Seit 2022 hätten bloss sechs Personen ein humanitäres Visum für die EU bekommen. Entsprechend fordern sie die EU-Länder auf, Desertion als politische Handlung anzuerkennen und juristischen Schutz zu gewährleisten.

Wie nah Verzweiflung und Hoffnung in der Antikriegsbewegung zuweilen beieinander sind, illustriert derweil der Wortwechsel an einem der Panels. «Frage ans Publikum», sagt ein Vertreter der in Russland verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial, «ist es möglich, in Russland 300 Personen zum Gespräch über Menschenrechte und Demokratie zu versammeln?» – «Im Knast», ruft jemand aus dem Publikum. Im Saal bricht lautes Gelächter aus.

Ein Thema, das über den meisten Diskussionen schwebt, ist die Zukunft Russlands. Einer, der eingeladen wurde, um seine Vision zu teilen, ist Michail Lobanow. Wer ihm zuhört, erhält fast schon den Eindruck, dass es um das Land gar nicht so schlecht steht. In den neunziger Jahren hätten die Vertreter:innen des rechten Mainstreams gemeint, mit der Einführung des Kapitalismus komme auch die Demokratie. «Die damals verhängte Schocktherapie hat die Demokratie getötet – weil sie den Menschen die ökonomischen Grundlagen nahm, um sich zu engagieren», so der linke Politiker. Die heutige Jugend in Russland hingegen sei deutlich politischer, linker auch. «Das hat auch der Kreml verstanden.»

Der 41-Jährige hat Russland ebenfalls verlassen müssen. Erst habe er gehofft, man würde ihn in Ruhe lassen, doch als er zum «ausländischen Agenten» erklärt worden sei und deshalb seinen Job an der Uni verloren habe, habe er begriffen: «Als Nächstes kommt das Gefängnis. Als sie mir bei einer Wohnungsdurchsuchung den Militärausweis und den Reisepass liessen, wusste ich: Sie wollen mich ausser Landes drängen.» Mit der Hilfe französischer Gewerkschafter:innen gelang ihm die Ausreise nach Paris. «Wenn sich in Russland das Fenster der Möglichkeiten öffnet, braucht es ein starkes politisches Subjekt», ist Lobanow überzeugt, «und ein Projekt, das auch für jene verständlich ist, die heute nicht politisch aktiv sind.»

Wie es um dieses Subjekt steht, zeigt ein Podium zur Bildungspolitik des Regimes. «Sie versuchen, die Jugend zu Held:innen zu erziehen», berichtet ein Politologe. In den Schulbüchern sei viel von Russlands Einigkeit, dem Wert der traditionellen Familie die Rede. Ausdruck dieser Verschiebung ist das 2022 eingeführte Fach «Gespräche über Wichtiges»: eine Art patriotische Klassenstunde. So düster die Vorstellung einer indoktrinierten Jugend, so hoffnungsvoll ist aber auch der Widerstand dagegen. Museumspädagog:in Vanya, die eigentlich anders heisst, berichtet etwa, wie Kunstunterricht dazu dienen kann, Jugendlichen kritisches Denken beizubringen. «Das Geld, das ich mit der Arbeit in staatlichen Museen verdiene, nutze ich für Aktivismus. Ohne es zu wissen, sponsert der russische Staat also Extremismus», sagt Vanya lachend, als eine:r von wenigen direkt aus Russland angereist.

Als die Antikriegsaktivist:innen Brüssel nach zwei Tagen wieder verlassen, sind nicht nur drängende Fragen besprochen, neue Kontakte geknüpft und alte erneuert worden. Klar geworden ist auch, wie viel die Erfahrungen der Anwesenden angesichts der autoritären Umtriebe wert sind. Oder wie es ein Teilnehmer des Abschlusspanels ans Publikum gerichtet formuliert: «Ihr, die ihr den Totalitarismus erlebt habt, könnt den Europäer:innen davon berichten – und ihnen als Vorbilder im Kampf dagegen dienen.»

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