Lölja Nordic: Warum sind Feministinnen im Widerstand zentral?
Die Aktivistin über Männlichkeitsbilder in der russischen Gesellschaft und den Kampf gegen die extreme Rechte.

WOZ: Lölja Nordic, wo stehen wir gerade?
Lölja Nordic: Wir befinden uns in einer äusserst düsteren Situation: Praktisch überall beobachten wir den Aufstieg des Faschismus, einen globalen rechtsextremen Umsturz. Diese Eskalation ist beängstigend, bedeutet aber auch, dass sehr viel Arbeit vor uns liegt. Mich persönlich motiviert es, mich noch stärker antifaschistisch einzusetzen.
WOZ: Eines Ihrer Betätigungsfelder ist die Gruppe Feministischer Antikriegswiderstand (FAR), die Sie mitgegründet haben. Wie kam es dazu?
Lölja Nordic: Einen Tag nach Beginn der russischen Vollinvasion der Ukraine kamen wir in einem Chat von Feministinnen aus verschiedenen Regionen zusammen. Da die feministische Bewegung in Russland in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen ist, konnten wir auf ein weitverzweigtes Netz von Basisgruppen zurückgreifen. Gemeinsam entschieden wir, dass wir als Bewegung auf die Eskalation des Krieges reagieren müssen. Inzwischen sind mehrere Dutzend Zellen in Russland aktiv – meist als Guerillagruppen im Untergrund. Hinzu kommen die über zwanzig Zellen im Exil – von Österreich, wo ich heute wohne, über die baltischen Länder bis nach Südkorea und in die USA –, die unter weniger gefährlichen Bedingungen leben und deshalb öffentlich im Namen des FAR auftreten können. Die Gruppen agieren autonom, stehen aber miteinander in Verbindung und treffen alle Entscheide kollektiv.
WOZ: Wie sieht eine typische FAR-Aktion aus?
Lölja Nordic: Direkt nach Beginn des Angriffskriegs haben wir Proteste organisiert. Schnell wurde uns aber klar, dass sie keine wirksame Widerstandsmethode sind. Die Polizeigewalt und das System polizeilicher Kontrolle sind so mächtig, dass sie jeden Protest mit brutaler Repression im Keim ersticken können: In 25 Jahren Putin-Herrschaft hat sich eine regelrechte innere Armee formiert. Also sind wir zu guerillaartigem Widerstand übergegangen.
WOZ: Können Sie ein Beispiel nennen?
Lölja Nordic: Nach der Blockade unabhängiger Medien brachten unsere Aktivistinnen Listen alternativer Informationsquellen zur Situation in der Ukraine in Umlauf und verbreiteten Wissen darüber, wie man einer Mobilisierung entgeht. Wir verschafften Kriegsdienstverweigerern Kontakte zu Initiativen wie «Idite Lesom» (Nehmt den Weg durch den Wald), die ihnen zur Flucht verhalfen. Und wir setzten uns für politische Gefangene oder Ukrainer:innen ein, die aus den besetzten Gebieten nach Russland gebracht, auf Asylzentren verteilt und dort sich selbst überlassen worden waren. Unsere Aktivistinnen spürten die Vertriebenen auf, versorgten sie mit allem Nötigen und brachten sie mit Autos über die Grenze ins sichere Ausland. Das war eine gewaltige Aufgabe mit Tausenden Involvierten – die meisten davon nicht Aktivist:innen, sondern ganz gewöhnliche Leute, die helfen wollten.
WOZ: Ein beeindruckendes Engagement, hat das russische Regime beim Zerstören der Zivilgesellschaft doch ganze Arbeit geleistet.
Lölja Nordic: Ja, weil es jede Initiative als Bedrohung ansieht, will das Regime, dass alle bloss still vor sich hin leben und seine Regeln befolgen. Deshalb sehe ich es derzeit auch als Hauptaufgabe in Russland an, den Leuten bei der Selbstorganisierung zu helfen. So bewahren sie ihre Handlungsfähigkeit, spüren, dass sie gemeinsam etwas erreichen können. Das muss nicht Antikriegsaktivismus im engeren Sinn sein, man kann auch Gewerkschaften am Arbeitsplatz aufbauen oder Initiativen zur gegenseitigen Hilfe in der Nachbarschaft.
WOZ: Im Widerstand gegen Krieg und Patriarchat haben Feministinnen schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Wer hat Sie inspiriert?
Lölja Nordic: Als wir den FAR ins Leben riefen, suchten wir nach passenden historischen Vorbildern. Wir schauten uns an, wie Feministinnen früher auf Kriege reagierten, welche Manifeste sie verfassten, welche Mobilisierungsstrategien sie hatten. Einige unserer Aktionen haben wir aber auch direkt von anderen übernommen – etwa als wir Botschaften gegen den Krieg auf Geldscheine schrieben, die dann im ganzen Land zirkulierten. Inspirierend waren für uns zudem die Erfahrungen iranischer Frauen, die trotz schrecklicher Repression nicht aufgeben. Oder jene belarusischer Aktivistinnen. Die Repression dort übersteigt jene in Russland bei weitem – wir sind es gewohnt, dass wir jeweils nach Minsk schauen müssen, um zu wissen, was uns in einigen Jahren erwartet.
WOZ: Schauen wir auf die Konsequenzen des Krieges für die russische Gesellschaft. Wie haben sich die Männlichkeitsbilder verändert?
Lölja Nordic: Das Narrativ vom «echten Mann» hat weiter an Bedeutung gewonnen: Wer an die Front geht, wird als «Verteidiger des Vaterlands» heroisiert. Insgesamt haben sich patriarchale Erzählungen intensiviert – und somit auch die Angriffe auf Frauenrechte. Die orthodoxe Kirche etwa wollte die reproduktiven Rechte schon lange einschränken; als Russland dann aus dem Europarat und anderen Menschenrechtsverträgen ausstieg, fühlte sie sich ermächtigt, noch stärker Druck zu machen. Auch der Staat hat ein Interesse daran, dass Frauen – besonders jene aus marginalisierten Gruppen – mehr Kinder zur Welt bringen: künftige Soldaten oder billige Arbeitskräfte. Auch mit dem Gerede über Familie und «traditionelle Werte» versucht er sie zum Kinderkriegen zu motivieren. Gebären als bürgerliche Pflicht quasi.
WOZ: Sie kämpfen seit Jahren gegen sexualisierte Gewalt. Wie wirkt sich der Krieg in dieser Hinsicht aus?
Lölja Nordic: Die Normalisierung von Gewalt gegen Frauen hat die militärische Aggression gegen die Ukraine mit ermöglicht: Je akzeptierter Gewalt in einer Gesellschaft ist, desto leichter ist es, auch gegen den Nachbarn vorzugehen. Hinzu kommt, dass Verbrecher, die etwa wegen Vergewaltigung im Gefängnis sassen, sich der Armee anschliessen und so freikommen konnten. Nach der Rückkehr von der Front laufen diese Leute frei herum, leben teilweise in den gleichen Städten wie ihre einstigen Opfer, manchmal töten und vergewaltigen sie weiter. Und was machen die Behörden? Sie löschen nicht nur das Strafregister, sondern verteilen auch noch Geld. Es gibt umfangreiche Sozialprogramme für Kriegsveteranen, Privilegien beim Zugang zu Universitäten oder Stellen in staatlichen Strukturen – all das ungeachtet der jeweiligen kriminellen Vergangenheit. Wir beobachten aber auch eine andere besorgniserregende Tendenz.
WOZ: Welche?
Lölja Nordic: Seit 2022 verzeichnen Menschenrechtler:innen einen eklatanten Anstieg von Verbrechen von Neonazigruppen gegen Migrant:innen und Menschen nichtslawischen Aussehens. Obwohl sich Russland gerne als antifaschistisches Bollwerk präsentiert, ist es ein faschistischer Staat, der rechtsextremen Kräften Aufwind verleiht. Und das wirkt sich natürlich auch auf junge Männer aus, die sich solchen organisierten Gruppen in Scharen anschliessen.
WOZ: Sie selbst haben Russland im März 2022 verlassen. Warum sind Sie geflohen?
Lölja Nordic: Schon im Januar 2021 war ich Teil eines Strafverfahrens, bei dem unklar war, ob ich als Zeugin oder Verdächtige fungiere. Es ging um die angebliche Blockade einer Strasse im Zusammenhang mit Protesten. Plötzlich tauchte der Geheimdienst bei meinen Eltern auf, bei denen ich damals noch gemeldet war. Danach wurde ich beschattet, regelmässig bei Protestaktionen verhaftet und zu Geldbussen verurteilt. Irgendwann wurde mir klar, dass ich auf einer Geheimdienstliste von Leuten gelandet sein musste, die es unter Druck zu setzen gilt.
WOZ: War das der Moment, in dem Sie entschieden, das Land zu verlassen?
Lölja Nordic: Nach Beginn der Vollinvasion der Ukraine wurde aus den Schikanen plötzlich ein Strafverfahren: Eines Morgens drangen bewaffnete Spezialeinheiten in meine Wohnung ein und nahmen mich wegen Terrorismusverdacht fest. Nach 78 Stunden kamen ich und einige Mitbeschuldigte bis zum Gerichtsprozess frei: Man gab uns die Möglichkeit zur Flucht. In Russland war das zu der Zeit üblich: Sie verhaften dich ein paarmal, und wenn du dann nicht abhaust, kommst du ins Gefängnis. Menschenrechtler:innen haben mich dann evakuiert. Zuerst dachte ich noch, ich würde bloss für ein paar Monate weggehen, bis sich die Lage beruhigt hätte.
WOZ: Heute leben Sie in Wien und sind weiterhin politisch aktiv. Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit lokalen Aktivist:innen?
Lölja Nordic: Ich bin extrem enttäuscht, dass die Ukraine auf Demos in Europa meist gar nicht erwähnt wird. Mir scheint, hiesige linke Bewegungen haben sich zu sehr von russischer Propaganda beeinflussen lassen. In den letzten drei Jahren habe ich den Kontakt zu westlichen Genoss:innen gesucht – und abstruse Theorien über den Krieg zu hören bekommen: dass die Nato das Hauptübel sei, weil sie Russland provoziert habe, die Ukraine bloss ein Spielball in der Auseinandersetzung. Das ist eins zu eins eine Kopie dessen, was die russische Propaganda in den Westen sendet. Dekonstruiert endlich mal die Kreml-Narrative in euren Köpfen! Hinzu kommt, dass westliche Genoss:innen oft meinen, ohne die Beteiligung von Ukrainer:innen und Russ:innen über den Krieg sprechen zu können. Dabei sollte das Prinzip «Nichts über uns ohne uns» eine gängige linke Praxis sein. Ich verstehe echt nicht, warum das immer dann vergessen zu gehen scheint, wenns um Russland und die Ukraine geht.
WOZ: Was denken Sie, woran das liegt?
Lölja Nordic: Vielleicht mangelndes Interesse oder Inkonsequenz im Befolgen der eigenen Prinzipien. Trotzdem finde ich es weiterhin wichtig, den Kontakt zu lokalen Linken zu suchen. Der Kreml wendet riesige Ressourcen auf, um rechte Parteien zu finanzieren und Wahlen zu beeinflussen. Wir russischen Aktivistinnen sehen es als unsere Verantwortung, diese Verbindungen aufzuzeigen. Indem wir gegen die Rechtsextremen in den Ländern kämpfen, in denen wir leben, bekämpfen wir automatisch auch das Putin-Regime. Doch während Putin, Trump und Musk Verbündete sind, die uns Feministinnen offensichtlich als Bedrohung sehen, besteht zwischen uns Aktivist:innen eine gewaltige Kluft – und das sollte nicht so sein. Arbeiten wir nicht zusammen, können wir die globale Konfrontation zwischen Autoritarismus und Menschenrechten nicht gewinnen.
Die Künstlerin und DJ Lölja Nordic kommt aus St. Petersburg und bezeichnet sich selbst als Anarchistin und Ökofeministin. Derzeit studiert sie an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Nordic ist Mitgründerin des Feministischen Antikriegswiderstands (FAR) und Mitorganisatorin des Festivals «Ne Winowata» (Es ist nicht ihre Schuld), das sich für Opfer häuslicher Gewalt einsetzt.