Krieg gegen die Ukraine: Quälende Ungewissheit

Nr. 20 –

Mehr als 70 000 ukrainische Armeeangehörige und Zivilist:innen gelten im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg als vermisst. Für die Familien ist die Suche nach ihnen eine Tortur. Zwei Angehörige berichten.

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Angehörige von Vermissten warten in Tschernihiw auf freigelassene Kriegsgefangene
Hoffen auf ein Lebenszeichen: Angehörige von Vermissten warten in Tschernihiw auf freigelassene Kriegsgefangene. Foto: Paula Bronstein, Getty

An den 6. August 2024 wird sich Ljubow Daniltschenko ihr Leben lang erinnern: als den Tag, an dem ihr Bruder Nikolai spurlos verschwunden ist. An jenem Morgen hat die heute 38-Jährige zum letzten Mal mit ihm telefoniert. «Mein Kolja», wie Daniltschenko ihren drei Jahre jüngeren Bruder liebevoll nennt, «sagte mir, er sei an seinem ersten Einsatzort eingetroffen.» Als sie ihn am Abend noch mal anruft, ist das Handy aus, auch alle Kontaktversuche über Telegram und andere soziale Netzwerke laufen ins Leere. «Vermutlich hockt er in irgendeinem Schützengraben und kann nicht telefonieren», versucht sich Daniltschenko zu beruhigen. Sechs Tage nach dem letzten Gespräch trifft ein Schreiben der ukrainischen Behörden ein: Seit dem 8. August gilt Nikolai Daniltschenko offiziell als vermisst.

Neun Monate ist das inzwischen her. Ljubow Daniltschenko wirkt gefasst, als sie im Videocall aus Charkiw davon berichtet, wie sie durch die Hölle ging. Auf das Gespräch mit der Journalistin hat sie sich gut vorbereitet, neben dem Handy liegt ein Ordner mit allen Papieren zu Nikolais Fall. Seitenweise Dokumente, verfasst in kalter Behördensprache, die doch nichts zur Aufklärung beitragen. «Es ist, als würdest du ständig an Türen klopfen, doch nie macht jemand auf. Am Schluss bist du völlig allein mit deiner Trauer, deinen Fragen», sagt sie. «Bis auf uns Angehörige interessiert sich doch niemand für unsere Jungs.»

Suche in Telegram-Gruppen

Die Geschichte von Nikolai Daniltschenko ist kein Einzelfall. Insgesamt gehen die ukrainischen Behörden derzeit von mehr als 70 000 Personen aus, die im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg als «vermisst» gelten. Zu ihnen zählen Armeeangehörige, die während Kampfhandlungen verschwunden sind, sowie Zivilist:innen, deren Spur sich in den besetzten Gebieten verliert. Im März kam eine Untersuchungskommission des Uno-Menschenrechtsrats zum Schluss, Russlands Praxis des «Verschwindenlassens» stelle ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. «Viele der Opfer verschwanden für Monate oder Jahre, oft ist ihr Aufenthaltsort bis heute unbekannt – für die Familien bedeutet das quälende Unsicherheit», schreibt sie.

Freiheit für die Kremlgeiseln

«People first»: Unter diesem Leitspruch haben dreissig Menschenrechtsorganisationen kürzlich eine Kampagne zur Freilassung ukrainischer Gefangener aus russischer Haft lanciert – darunter die russische Organisation Memorial und das ukrainische Center for Civil Liberties, die 2022 gemeinsam mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden sind.

Die Bürgerrechtler:innen beziehen sich dabei nicht nur auf ukrainische Zivilist:innen und Kriegsgefangene auf beiden Seiten, sondern auch auf deportierte ukrainische Kinder sowie die politischen Gefangenen in Russland, die wegen ihres Protests gegen den Krieg hinter Gittern sitzen. «Die Freiheit dieser Menschen muss in allen Verhandlungen zur Beendigung des Krieges im Vordergrund stehen», fordert Jewhen Sacharow, dessen Kharkiv Human Rights Protection Group zu den Initiant:innen der Kampagne gehört.

Mehr Informationen auf: people1st.online/de.

Am Freitag, 16. Mai 2025, um 18.30 Uhr wird auf dem Holliger-Areal in Bern der Film «Prisoners» von Jewgenija Tschirikowa gezeigt. Anschliessend findet eine Podiumsdiskussion unter Beteiligung der Regisseurin sowie einiger Protagonist:innen statt. Anmeldung zwingend mit Mail an artofpeacealliance@gmail.com.

 

Wie viele Menschen in russischen Gefängnissen festgehalten werden, weil sie dem Regime als proukrainisch und damit feindlich gesinnt gelten, lässt sich nicht genau sagen. Zuletzt nannte der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments die Zahl 16 000. Hinzu kommen geschätzt 20 000 ukrainische Minderjährige, die nach Russland verschleppt wurden. «Die offiziellen Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs», sagt Jewhen Sacharow, Direktor der Kharkiv Human Rights Protection Group (KhPG), einer der wichtigsten ukrainischen Menschenrechtsorganisationen. «Weil die Russen nicht bekannt geben, wer bei ihnen inhaftiert ist, wissen wir nicht, wie viele es tatsächlich sind.»

Eigentlich hätte Nikolai Daniltschenko gar nicht erst in der Armee landen dürfen, sagt seine Schwester. Wegen seiner intellektuellen Beeinträchtigung sei er nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie einst ausgemustert worden; dennoch hätten die Einberufungsbehörden ihn von der Strasse weg mobilisiert. «Sie schauen die Männer gar nicht richtig an, sondern erklären sie einfach für tauglich», meint sie.

Als Nikolai für vermisst erklärt wird, wendet sich Ljubow Daniltschenko an eine Anwältin. «Erst habe ich mir Geld geliehen, um sie zu bezahlen, dann verlangte sie plötzlich einen Betrag, den ich mit meinem kleinen Lohn nicht stemmen konnte», sagt die alleinerziehende Mutter eines dreizehnjährigen Sohnes, die als Näherin arbeitet. «Nach Feierabend verbringe ich die halbe Nacht im Internet», erzählt sie. In den letzten Jahren sind in der Ukraine diverse Telegram-Gruppen entstanden, in denen Familien Unterstützung bei der Suche nach vermissten Verwandten erhalten. Freiwillige durchforsten etwa russische Kanäle nach Informationen, Fotos oder Videos von Kriegsgefangenen und stellen diese Angehörigen zur Verfügung.

Inzwischen wird Daniltschenko von einer Juristin der KhPG unterstützt. Gemeinsam haben sie mehr als zwanzig Briefe geschrieben: an verschiedene Behörden in Kyjiw, ans Russische Rote Kreuz, das die Einhaltung der Genfer Konventionen in Bezug auf ukrainische Kriegsgefangene überwachen soll, und auch ans Verteidigungsministerium in Moskau.

«Ihr Gesuch wurde überprüft», liest sie aus dessen Antwortschreiben vor. Und weiter: «Unter denen, die von den Streitkräften der Russischen Föderation wegen Zuwiderhandelns gegen die militärische Spezialoperation festgenommen wurden, wird Nikolai Pawlowitsch Daniltschenko nicht aufgeführt.» Nicht aufgeführt, nicht gefunden: So sei jedes Gesuch beantwortet worden. «Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die Russen erbarmen und mein Kolja doch noch auf einer Liste auftaucht», sagt Daniltschenko.

Innerlich zerrissen

Auch Oksana Sentscha kennt das Gefühl der alles verzehrenden Ungewissheit nur zu gut. Ende November 2024 ist ihr Vater Oleksandr Kroschka im Oblast Sumy verschwunden. «Nach aussen versuchst du, lächelnd durchs Leben zu gehen, im Innern aber zerreisst es dich», sagt die 28-Jährige am Telefon aus dem polnischen Poznań, wo sie mit ihrem Ehemann lebt.

Kroschka wird im Sommer 2024 in die Armee eingezogen. Als er bei einem Einsatz schwer verletzt wird, hofft seine Tochter, dass er aus dem Dienst entlassen wird. Vergeblich. Am 18. November dann telefoniert sie das letzte Mal mit ihm. «Er sagte mir: Wenn ich in fünf Tagen nicht anrufe, bin ich nicht mehr am Leben», erinnert sich Sentscha. Wie Ljubow Daniltschenko in Charkiw durchkämmt Oksana Sentscha in Poznań die einschlägigen Telegram-Kanäle, versucht immer wieder, an Informationen zu kommen – bis heute. Nach einigen Wochen trifft auch bei ihr ein offizielles Dokument ein: Ihr Vater gilt nun als vermisst. Mehr teilen die Behörden nicht mit, auch psychologische Beratung oder sonstige Hilfe bieten sie nicht an. «Für sie ist der Fall abgeschlossen», sagt Sentscha resigniert.

«Insgesamt haben wir fast 3500 Personen ausfindig machen können», sagt Menschenrechtler Jewhen Sacharow, «darunter sind aber vor allem Soldat:innen, von deren Verbleib wir etwa durch Infos freigelassener Kriegsgefangener wissen.» Undurchsichtiger ist die Situation ukrainischer Zivilist:innen, die in den von Russland besetzten Gebieten ihrer Freiheit beraubt werden. Menschen werden am Arbeitsplatz, zu Hause oder auf der Strasse verhaftet und in Gefängnisse, Straflager oder informelle Haftanstalten gesteckt – weil die Besatzer sie für proukrainisch halten. Besonders gefährdet seien öffentliche Meinungsführer:innen: Lokalpolitiker, Journalistinnen, Unternehmer:innen oder Geistliche, aber auch Staatsangestellte oder Veteranen des Krieges im Donbas.

Oft reicht auch schon ein als patriotisch ausgelegtes Tattoo oder auf der Strasse Ukrainisch zu sprechen, um als verdächtig zu gelten. Eines der Hauptelemente russischer Besatzungspolitik sei die Einschüchterung der Bevölkerung, sagt Sacharow. Die Leute würden so lange gefoltert, bis sie sich von der Ukraine lossagten. «Sie werden physisch und psychisch gebrochen.» Die KhPG geht von 14 Strafkolonien im besetzten Donbas und 17 in Russland selbst aus, in denen ukrainische Zivilist:innen festgehalten werden. Vermutlich seien es deutlich mehr, so der 72-Jährige. Die ukrainischen Behörden haben insgesamt 186 solcher Stätten ausgemacht.

Hilflos ausgeliefert

Ein prominenter Fall ist jener der Journalistin Viktoria Roschtschyna. Im Juli 2023 war sie in die besetzten Gebiete gereist, um zum Schicksal ziviler Kremlgeiseln zu recherchieren; dort wurde sie dann selbst inhaftiert, brutal gefoltert und mutmasslich ermordet. Im vergangenen Februar wurde der Leichnam der 27-Jährigen der Ukraine übergeben. Die Schilderungen über dessen Zustand lassen einen erschaudern: Der Körper wies nicht nur mehrere Verletzungen wie Rippenbrüche und Blutergüsse auf, sondern auch Spuren von Elektroschocks, manche Organe fehlten. Kürzlich hat ein internationales Medienkonsortium rund um das Netzwerk Forbidden Stories Roschtschynas Schicksal aufgearbeitet – und die Recherchen, für die die Reporterin wohl sterben musste, zu Ende gebracht. Demnach werde in mindestens 29 russischen Haftanstalten «systematisch gefoltert».

In manchen Strafkolonien würden die Insass:innen gezwungen, den ganzen Tag zu stehen, berichtet Menschenrechtler Sacharow. «Sie dürfen weder miteinander sprechen noch Wasser trinken oder die Toilette aufsuchen. Bricht jemand eine der Regeln, werden auch alle Mitinsass:innen verprügelt. Das geht dann über Monate so.» Auch das erwähnte Medienkonsortium hat, gestützt auf Gespräche mit ehemaligen Häftlingen, Angehörigen und Menschenrechtler:innen, diverse Foltermethoden dokumentiert: Inhaftierte wurden mit Elektroschocks gequält, mit Holzhämmern auf Beine, Knie und Arme geschlagen, erlitten sexualisierte Gewalt und mussten bei Minusgraden nackt in Metallkäfigen ausharren.

Während für Soldat:innen in Kriegsgefangenschaft immerhin ein völkerrechtlicher Rahmen besteht, sind Zivilist:innen dem russischen Terrorregime noch hilfloser ausgeliefert: Unzählige Menschen werden ohne Anklage, Kontakt zur Aussenwelt oder rechtsstaatliches Verfahren festgehalten. Niemand weiss, wo sie sich befinden – oder ob sie noch leben. Gemäss den Medienberichten und der Einschätzung von Expert:innen wird das Foltersystem direkt vom russischen Geheimdienst FSB verantwortet, dessen Vertreter:innen auch direkt in die wichtigsten Befragungen involviert sind.

Das Schlimmste sei, nicht zu wissen, was mit ihrem Vater passiert sei, sagt Oksana Sentscha. Ihre Stimme stockt. Schon einmal hat sie einen schmerzlichen Verlust hinnehmen müssen: 2023 ist ihr 23-jähriger Bruder in einer Schlacht bei Donezk gefallen. Nun hofft Sentscha, dass sie – sollte ihr Vater tatsächlich nicht mehr leben – zumindest die Leiche bekommt. «Damit ich ihn wenigstens im Familiengrab neben seinem Sohn begraben kann.»