Inklusion: Lustig oder total daneben?
Im Umgang mit Behinderung herrscht grosse Verunsicherung. Das ist gut so – doch die Angehörigen gehen zu oft vergessen.
Vor wenigen Monaten präsentierte der Elternverein, bei dem ich als Mutter eines behinderten Kindes Mitglied bin, ein neues Merchandisingprodukt: Socken mit der Aufschrift «Disability S*cks». Zuerst musste ich lachen, dann zuckte ich zusammen: Ist das nicht behindertenfeindlich? Wenn ich diese Socken trage, sage ich dann, dass ich mein Kind ablehne? Oder im Gegenteil: Ist es Ausdruck von Akzeptanz und Disability Pride? Wie wäre es, wenn meine Freundin diese Socken bei ihrer Arbeit als Sonderschullehrerin tragen würde? Wäre das despektierlich? Absurd? Oder ein Zeichen von Solidarität?
Im Umgang mit Behinderung herrscht grosse Verunsicherung. Und das ist gut so. Viel zu lang wurde hierzulande eine scheinbar sichere Ordnung aufrechterhalten, die Menschen mit Behinderungen zu Objekten degradierte und ihnen die Möglichkeit der Teilhabe direkt und indirekt verwehrte. Die 2024 eingereichte Inklusions-Initiative, die effektive Gleichstellung, Teilhabe und Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen fordert, ist deshalb schon jetzt ein Meilenstein in der Geschichte der Schweizer Behindertenrechtsbewegung, weil die Betroffenen die Regierung dazu brachten, sie als politische Akteur:innen anzuerkennen und sich mit ihren Forderungen auseinanderzusetzen. Damit wird auch in der Schweiz jener Paradigmenwechsel sichtbar, der vor über zwanzig Jahren mit der Uno-Behindertenrechtskonvention in vielen Ländern angestossen wurde: weg von einer paternalistischen Fürsorgepolitik, hin zu einer Politik der Partizipation.
Gesellschaft ist zuständig
Eine der wichtigsten Veränderungen, die der internationale Behindertenaktivismus und die damit verbundenen Disability Studies in den letzten Jahrzehnten erreicht haben, ist ein neuer Blick auf das, was «Behinderung» ist. Nicht die körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen einzelner Menschen stehen dabei im Fokus, sondern gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Praktiken, durch die einzelne Personen erst stigmatisiert, diskriminiert und ausgeschlossen werden. Der Slogan «Wir sind nicht behindert, wir werden behindert» bringt dieses sogenannte soziale Modell von Behinderung auf den Punkt. Damit verliert die Medizin ihre Deutungshoheit. Nicht der Arzt, sondern die Gesellschaft ist nun für «Behinderung» und ihre Überwindung zuständig.
Ein wichtiger Aspekt dieses Modells ist die Umwertung körperlicher Normabweichungen. Dass jemand blind oder gelähmt ist, wird nicht länger als Problem betrachtet, das gelöst werden muss, sondern als ein Aspekt der real existierenden Vielfalt, als schlichte Tatsache, die weder Grund für Mitleid noch für Scham ist. In dieser Umwertung steckt viel emanzipatives Potenzial, aber sie führt auch zu unauflösbaren Widersprüchen. Irving Kenneth Zola, Aktivist und Mitbegründer der Disability Studies, verwies schon früh auf die Schwierigkeit, Behinderung analog zu «Black is beautiful» oder «Sisterhood is powerful» als erstrebenswerte Eigenschaft zu propagieren, und gab zu bedenken, dass Parolen wie «Lang lebe der Krebs» oder «Hoch mit Multipler Sklerose» kaum überzeugen können.
Hier zeigt sich die Schwachstelle des sozialen Modells: Viele Behinderungen sind mit körperlichen Nachteilen verbunden, die sich auch unter idealen gesellschaftlichen Bedingungen nicht auflösen. Dies zu leugnen, ist genauso unangebracht wie die Gleichsetzung von Behinderung mit Schmerz und Leid. Wie also damit umgehen?
Die Zurückweisung der medizinischen Deutungshoheit führt darüber hinaus zu einer Unsicherheit darüber, wer denn eigentlich zur Gruppe der Betroffenen gehört. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil «Selbstrepräsentation» eines der wichtigsten Ziele und Instrumente der Behindertenrechtsbewegung ist. «Nichts über uns ohne uns» ist der zentrale Leitsatz. Wer aber ist «uns»? Die Gruppe der Behinderten ist so heterogen wie keine andere: Gerade das, was sie eint, macht sie auch maximal verschieden. Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen einem Nationalrat mit Zerebralparese und einem geistig schwer behinderten Mädchen? Darf sich eine übergewichtige Frau als behindert bezeichnen? Was ist mit ADHS, Schüchternheit, Alkoholismus? Und wer entscheidet darüber, wenn nicht die medizinische Diagnose, sondern die erlebte Be-hinderung massgeblich ist?
Besonders knifflig ist diese Frage bei Angehörigen, insbesondere bei Eltern geistig behinderter Menschen. Die ersten Elternorganisationen entstanden zeitgleich mit dem Behindertenaktivismus in den USA der dreissiger Jahre und gewannen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Europa an Bedeutung. Doch obwohl beide Gruppen dasselbe Ziel verfolgen – das Leben von Menschen mit Behinderungen zu verbessern –, war das Verhältnis von Anfang an distanziert.
Eltern sind mit be-hindert
Bis heute werden Eltern in den Disability Studies nicht als Betroffene miteinbezogen, sondern im besten Fall als «Verbündete», im schlimmsten Fall als «Hindernisse» auf dem Weg der Emanzipation betrachtet. Ein Hauptvorwurf lautet, dass Eltern und Elternorganisationen zu eng mit Medizin und Pharmaindustrie zusammenarbeiten und ihnen die therapeutische Normalisierung ihrer Kinder wichtiger ist als politisches Engagement. Anders gesagt: Sie verändern ihre Kinder anstatt die Welt.
Das ist in manchen Fällen zutreffend. Allerdings wird kaum zur Kenntnis genommen, dass die Behinderung eines Kindes die Eltern – und weitere Angehörige – oft auf so umfassende Weise betrifft, dass auch sie be-hindert werden. Die Betreuung kann komplex und anspruchsvoll sein, und viele Eltern erhalten in der ersten Zeit nur von medizinischen und heilpädagogischen Fachleuten Unterstützung. Dass sie deshalb gelegentlich auch für deren Interessen instrumentalisiert werden, ist kaum zu verhindern.
Ausserdem ist nicht immer klar, welche medizinischen Massnahmen das Leben mit Behinderung unterstützen und welche es eher negieren oder bekämpfen. Eltern entscheiden in der Regel pragmatisch, und nicht selten geht es auch darum, ihre eigene Not auf ein erträgliches Mass zu reduzieren. So verabreichen viele Eltern ihren geistig behinderten Kindern Schlafmittel, um deren Schlafrhythmus zu normalisieren. Dahinter steckt kein behindertenfeindliches Ideal, sondern der schlichte Wunsch, zu überleben. Die Betreuung eines nachtaktiven Angehörigen mit geistiger Behinderung im eigenen Haushalt ist eine ungeheure Belastung, die schon nach kurzer Zeit die Gesundheit und die Erwerbsfähigkeit ernsthaft gefährdet und zu sozialer Isolation führen kann.
Um die Vielfalt von Lebensrealitäten behinderter Menschen zu verstehen, ist es wichtig, auch Eltern und andere betroffene Angehörige miteinzubeziehen. Nicht nur, weil sie oft die Einzigen sind, die über das gemeinsame Leben mit der Behinderung Auskunft geben können, sondern weil auch ihre eigenen Chancen auf Partizipation und Selbstbestimmung von den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen abhängen.
Trotz grosser Verunsicherung gibt es beim Thema Behinderung deshalb auch einige Gewissheiten. Zum Beispiel, dass ein echtes Inklusionsgesetz, wie es die Inklusions-Initiative fordert, für alle von grösster Bedeutung ist, unabhängig davon, ob man «Disability S*cks» lustig, peinlich, cool oder total daneben findet.
Die Autorin dieses Textes macht auch den neuen Podcast «Kapitel B. Eltern behinderter Kinder erzählen vom Leben und Schreiben», zu finden auf kapitel-b.podigee.io.