Durch den Monat mit Mariam Al-Shaar (Teil 1): Warum betreiben Sie ein Café?
Die Palästinenserin Mariam Al-Shaar lebt im Beiruter Flüchtlingscamp Burdsch al-Baradschne. Dort hat sie ein Café aufgebaut, in dem nur Frauen beschäftigt sind.
WOZ: Mariam Al-Shaar, wir sitzen im Büro der Menschenrechtsorganisation Cuisine sans frontières in Zürich. Wenn dieses Interview erscheint, sind Sie bereits zurück in Ihrer Heimatstadt Beirut. Mit welchem Gefühl kehren Sie nach Hause zurück?
Mariam Al-Shaar: Mariam Al-Shaar: Einerseits freue ich mich sehr auf meine Rückkehr. Andererseits bin ich mir meines Privilegs bewusst: Ich habe zwar mein ganzes Leben im Flüchtlingslager Burdsch al-Baradschne verbracht, aber ich kann reisen. Für Palästinenser:innen ist das überhaupt nicht selbstverständlich. Für uns ist es extrem schwierig, Visa zu bekommen. Deshalb sehe ich mich als sehr glückliche Frau, weil ich Visa für viele Länder erhalten habe. Es ist fast wie in einem Traum.
WOZ: Ein Traum?
Mariam Al-Shaar: Als Kind konnte ich mir ein Leben ausserhalb von Burdsch al-Baradschne nicht vorstellen. Lange dachte ich, die ganze Welt sei so wie bei uns, das Camp habe ich nur selten verlassen. Wir hatten ja nicht die Möglichkeit. Erst mit Mitte zwanzig wurde mir bewusst, dass es bei uns anders ist. Besucher:innen im Camp zeigten nach oben auf die herunterhängenden Stromleitungen und fragten: «Mariam, wie kannst du hier leben?» Erst da fragte ich mich selbst: Ja, wie eigentlich?
Mariam Al-Shaar: Als ich zu reisen begann, wurden mir die Unterschiede schmerzlich bewusst. Meine erste Auslandsreise führte mich nach Istanbul. Dort sah ich Blumen und saubere Strassen. Ich hingegen lebte in einer engen Gemeinschaft. Ich wünschte mir, unser Camp hätte auch offene, bunte Lebensräume. Und so formulierte ich mir einen Auftrag: Frauen zu ermöglichen, ihre Wünsche zu erfüllen.
WOZ: 2013 haben Sie in Burdsch al-Baradschne «Soufra» gegründet, eine Küche mit Catering, später noch ein Café, in dem Frauen eine gastronomische Ausbildung angeboten wird. Wie kam es dazu?
Mariam Al-Shaar: Ich habe mich schon immer für Frauenrechte eingesetzt und wollte darum die Frauen meiner Community stärken. Und ich hatte den Traum, einen Ort nur für Frauen zu schaffen. Die Idee für «Soufra» keimte 2013. Damals arbeitete ich beim Hilfswerk UNRWA. Eine Umfrage ergab, was Palästinenserinnen in Burdsch al-Baradschne am meisten brauchen: Arbeit. Viele Frauen hatten nur wenig Schulbildung und wünschten sich eine Erwerbstätigkeit, zum Beispiel als Köchin.
Mariam Al-Shaar: Mit Unterstützung der Alfanar Association, einer philanthropischen Organisation für die arabische Welt, entwickelte ich zunächst einen Projektplan: Kochkurse für Frauen im Zentrum des Camps. Ich selbst interessiere mich ja nicht fürs Kochen, aber gemeinsam mit einigen Frauen eröffneten wir eine kleine Küche und lernten langsam dazu: Bestellungen aufnehmen, Essen ausliefern, den Betrieb organisieren, Businesspläne schreiben. Alles war neu – eine einzige grosse Lektion: die Hygiene sicherzustellen an einem Ort, wo es nicht genügend Wasser und oft keinen Strom gibt; Kund:innen und immer wieder neue Unterstützer:innen gewinnen. Hinzu kam der Druck von aussen. Oft schaute man auf uns herab und behauptete, wir im Camp seien nicht sauber. Ich wollte beweisen, dass das nicht stimmt.
WOZ: Wie ist es Ihnen gelungen?
Mariam Al-Shaar: Die ersten zwei Jahre waren hart. Aber dann half uns ein wichtiges Projekt. Die American University of Beirut beauftragte uns, täglich 200 Schüler:innen mit gesundem Essen zu versorgen. Für unsere kleine Küche war das eine riesige Aufgabe, aber auch ein enormer Ansporn. Unser Tag begann morgens um sechs, und wir meisterten die Herausforderung mit einem Team von meist acht Frauen. Ich war sehr streng, habe alles kontrolliert: Sauberkeit, Gesundheit, Organisation. Das hat mich nicht nur beliebt gemacht, aber so bin ich halt. Und ich träumte davon, das Unternehmen zu vergrössern.
WOZ: Wie ging es weiter?
Mariam Al-Shaar: 2017 traf ich einen Mitarbeiter von Cuisine sans frontières, einem in Zürich ansässigen Verein. Wir tüftelten gemeinsam an dem Projekt, «Soufra», einem Café von und nur für Frauen. 2021 wurde es eröffnet. In meiner Community gab es Bedenken. Ich sei verrückt, hiess es, das Projekt sei zu gross und zu riskant. Doch ich machte weiter und habe damit einen weiteren Raum für Frauen erschlossen. «Soufra» ist nicht nur ein Projekt für mich. Mir geht es nicht ums Geld. Es ist eine Möglichkeit für Frauen, aus der Enge herauszukommen. Ich denke Tag und Nacht an «Soufra» und habe oft Sorge, ob ich genug Unterstützer:innen finde.
WOZ: Das «Soufra»-Team besteht mittlerweile aus rund vierzig Frauen. Viele Menschen brauchen Sie. Wie gehen Sie damit um?
Mariam Al-Shaar: Das ist nicht immer einfach. Eine Frau aus meinem Team sagte mir mal: «Wir vertrauen dir mehr, als du dir selbst vertraust.» 2020 durchlebte ich eine schwere Krise. Kurz zuvor hatte ich einen engen Freund verloren. Es war ein Schock, ich habe oft geweint. Irgendwann sagte eine meiner Schwestern, es sei schwer für sie, mich so traurig zu sehen. Da habe ich mich aufgerafft – aus Verantwortung gegenüber meiner Familie und meinem Team. Ich wusste: Sie brauchen mich, und sie haben nicht die Möglichkeiten, die sich mir eröffnet haben.
Mariam Al-Shaar (53) wurde im Flüchtlingscamp Burdsch al-Baradschne geboren und will auch nicht weg von dort. Im in Beirut gelegenen Lager leben rund 50 000 Geflüchtete, die meisten sind Palästinenser:innen. – Cuisine sans frontières ist ein Verein mit Sitz in Zürich, der Projekte zur Friedensförderung organisiert.