Roman: Kampf um Selbstachtung

Nr. 21 –

Die peruanische Schriftstellerin Gabriela Wiener spürt ihrem eigenen kolonialen Erbe nach – und fragt, wie sich Verrat in Körper und Biografien einschreibt.

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Bild Gabriela Wiener
Gabriela Wieners Ururgrossvater war ein Grabräuber aus Europa. Nun stürzt die Autorin den über Generationen verehrten «Ahnherrn» vom Sockel.    Foto: Amir Hamja, Laif

Gabriela Wiener steht im Musée du quai Branly, dem Museum für aussereuropäische Kunst in Paris, vor peruanischen Grabbeigaben aus der prähispanischen Zeit, darunter viele Keramikgefässe in Form von Köpfen: «In der Vitrine vermischt sich mein Spiegelbild mit den Umrissen dieser Gesichter mit brauner Haut, mit Augen wie kleinen, funkelnden Wunden, Nasen und Wangen aus so blanker Bronze wie meine …».

Wiener ist eine «chola» – ein peruanisches Schimpfwort für eine Person mit indigenen Vorfahren. Ihr erster Roman, «Unentdeckt», der vergangenes Jahr auf der Longlist des International Booker Prize stand, ist eine weitgehend autobiografische Auseinandersetzung mit dem Erbe des Kolonialismus, das die Autorin als Zwiespalt in der eigenen Identität erlebt. Denn ihr Ururgrossvater war der österreichische Forscher Charles Wiener, der in den 1870er Jahren Peru und Bolivien bereiste. Als selbsternannter Archäologe erbeutete er die Keramikköpfe, in denen seine Ururenkelin nun ihre Züge wiedererkennt.

Der Verrat

«Ein Ururgrossvater ist kaum mehr als eine Spur in einem Leben, es sei denn, er hat läppische viertausend präkolumbianische Objekte mit nach Europa genommen», schreibt Wiener. Für die peruanische Schriftstellerin sind die Archäologen des 19. Jahrhunderts schlicht «haqueros», Grabräuber. Charles Wiener war ausserdem ein Hochstapler, der Orte als seine Entdeckung ausgab, die vor ihm schon andere Europäer «gefunden» hatten. Aber er ist eben auch ein Verwandter: Eine Urkunde aus dem Jahr 1877 belegt, dass Wieners Ururgrossmutter María Rodríguez ein Kind taufen liess, Carlos, leiblicher Sohn von «Don Manuel Wiener».

Gabriela Wiener wächst mit der Erzählung auf, dass das ein Irrtum sei, dass in der Urkunde eigentlich ­«Charles» statt «Manuel» stehen müsste. Die peruanische Familie Wiener ist stolz auf ihren weissen Vorfahren. Aber als die Autorin selbst Nachforschungen anstellt, sagt ihr ein französischer Historiker, dass es fraglich sei, ob wirklich der Forscher ihr Urahn sei. Sie werde hier «vom Spezialisten in Zweifel gezogen», schreibt sie, «wie eine beliebige weitere nebulöse Entdeckung Wieners».

Charles (oder eben Manuel) Wiener hat sein Kind in Peru nie gesehen, er verschwand, bevor es auf die Welt kam. In der Familie wurde der weisse «Ahnherr» zwar verehrt, in jeder Wohnung stand sein Bild auf einer Kommode, aber von diesem Verrat wurde nie gesprochen. Und hat sich der Verrat an den «cholas» nicht wiederholt? Der Vater der Autorin, dessen Haut sehr hell war, heiratete eine «chola», führte aber dreissig Jahre lang eine Parallelbeziehung mit einer anderen Frau. «Ich bin die Tochter der Ehefrau», schreibt Gabriela Wiener, aber das empfindet sie nicht als Vorteil, denn sie ist ja die Tochter der Verratenen.

«Unentdeckt» ist Kolonialismuskritik aus der Sicht einer Betroffenen. Wiener schreibt vor allem darüber, was der Kolonialismus in den Seelen und Körpern anrichtet. Selbst leidet sie unter extremer Eifersucht, mit der sie ihre Liebsten belastet, ihren peruanischen Ehemann ebenso wie ihre spanische Geliebte. Ständige Angst vor Verrat begleitet sie durch das Leben. Für die Ich-Erzählerin, die wie die Autorin heisst und wohl mit ihr identisch ist, spielt vielleicht deshalb Sexualität eine so grosse Rolle – eine übermässige, wie sie selbstkritisch reflektiert: «Ich brauche zu viel Sex, um zu vergessen, wie wenig ich mich liebe, wie wenig ich geliebt wurde.»

Viele Südamerikaner:innen, schreibt Wiener, litten unter Minderwertigkeitsgefühlen, vor allem, wenn sie in Europa nur als billige Arbeitskräfte wahrgenommen würden. In Madrid wird sie von ihrer spanischen Freundin zu deren Grossmutter mitgenommen. Diese fragt, ob sie denn gut putzen könne, und bleibt taub für die Erklärung der Enkelin, dass Gabriela eine erfolgreiche Journalistin sei, die zum Beispiel für eine Reportage über Gewalt gegen Frauen den peruanischen Nationalen Journalistenpreis erhalten habe.

Literarische Selbstentdeckung

In seinem Buch «Perú y Bolivia» macht Charles Wiener aus seiner Verachtung für die indigene Bevölkerung keinen Hehl. Voller Ekel beschreibt er eine alkoholkranke Frau, der er einen Jungen abkauft, um ihn mit nach Frankreich zu nehmen und dort zu «zivilisieren». Gabriela Wiener ist entsetzt, als sie diese Passage liest: «Er nimmt ihr nicht nur ihren Sohn, sondern er misshandelt sie auch noch mit seiner Erzählung, in der er sich selbst als weissen Retter aufbaut.» Vergeblich versucht sie herauszufinden, was mit dem Kind geschehen ist.

Für intensive, auch schmerzhafte Selbstanalysen ist die Autorin bekannt, wie sie selbst in «Unentdeckt» einmal erwähnt; auch durch ihr Memoir «Nueve Lunas» über ihre Schwangerschaft oder die «Sexografías», ihre Essays über Sexualität. Sie kämpft literarisch gegen Scham und Selbstverachtung, indem sie den Finger in alle Wunden legt, die sie findet, und diese sehr genau untersucht. Gegen die Kolonisierung der «Entdecker» setzt sie die Selbstentdeckung: «Hören wir nie auf zu suchen, was wir waren, um zu werden, was wir träumen.»

Buchcover von «Unentdeckt»
Gabriela Wiener: «Unentdeckt». Roman. Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern. Kanon Verlag. Berlin 2025. 192 Seiten.

Gabriela Wiener liest am Freitag, 30. Mai 2025, um 11.30 Uhr im Theatersaal an den Solothurner Literaturtagen.